Alles für alle und zwar umsonst… Freie Software und Anarchismus

[Dieser Text erscheint auch in der aktuellen Ausgabe der Gai Dao.]

Dieser Artikel erschien zuerst am 28.10.2013 auf linksunten.indymedia.org. Durch das Verbot von linksunten im Sommer 2017 verschwand er wie tausende andere in den Tiefen des Internets.¹ Darum und weil er eine Auffrischung und ein paar Erweiterungen benötigte, erscheint er hier in aktualisierter Fassung.

Die Freie-Software-Bewegung ist die radikale, anarchistische Kritik an der heutigen Ordnung des geistigen Eigentums, nicht nur in der liberalen Gesellschaft Amerikas, sondern an dessen Ordnung in der ganzen globalisierten Welt.“²

Mein erster bewusster Kontakt mit Freier Software wurde aus der Not heraus geboren: Nach einer Hausdurchsuchung vor einigen Jahren und der damit einhergehenden Beschlagnahme unseres unverschlüsselten Wohngemeinschaftscomputers (wir waren damals die absoluten Computer-Dummies), begann ich mich als Computerlaie mit Datensicherheit und Verschlüsselung zu beschäftigen. Ich wollte für zukünftige Besuche unserer Freund*innen und Helfer*innen gewappnet sein und den Staatsschergen den Zugang zu meinen Daten erschweren, ja unmöglich machen. So kam ich bald zum Gnu/Linux-Betriebssystem Ubuntu, das von Haus aus eine Verschlüsselung des gesamten Systems anbot und immer noch anbietet. Innerhalb weniger Tage stieg ich komplett auf Ubuntu um (inzwischen nutze ich das freiere Debian Gnu/Linux ) und kam so in den Genuss eines sicheren Systems, das es mir mit seinen unzähligen Programmen und Angeboten ermöglichte, verschlüsselt zu Mailen und zu chatten und meine Daten vor dem Zugriff Dritter effizient zu schützen.

Erst nach und nach wurde mir klar, dass mir mit Gnu/Linux ein Betriebssystem auf der Festplatte lag, das durch die Philosophie der Freien Software und die Arbeitsweisen ihrer Communities viele Anknüpfungspunkte zum Anarchismus hat.

Geschichte der Freien Software

Ich tendiere mehr zu der linken anarchistischen Idee, daß wir uns freiwillig zusammensetzen und ausdenken sollen, wie wir durch Zusammenarbeit für alle sorgen können.” [Richard Stallman]

Die Geschichte der Freien Software reicht bis in die 1960er Jahre zurück und ist eng mit dem Namen Richard Stallman, der sich nicht als Anarchisten versteht und sogar den Staat verteidigt³, verbunden (Bitte lest meinen Nachtrag zu Stallman am Ende des Artikels.). Stallman ist nicht der Erfinder der Freien Software. Software war bis Ende der 1960er Jahre grundsätzlich – wenn auch nicht absichtlich – frei. Das hieß, ihr von Menschen lesbarer Quellcode war jeder Person frei zugänglich. Sie folgte der akademischen Überzeugung, dass Wissen offen zugänglich sein sollte, da nur so wissenschaftliches Arbeiten möglich wäre. Programmierer*innen und Wissenschaftler*innen teilten frei und ungezwungen den Quellcode jeglicher Software. Desweiteren war die Software bis dahin eher ein Beiwerk zur teuren Hardware.

Stallman war der erste, der die Problematik der sich immer mehr ausbreitenden Unsitte der geschlossenen, jemensch gehörenden (also proprietären) Software erkannte, benannte und anprangerte. Gleichzeitig begann er, sich bewusst mit der gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Dimension von quelloffener Software zu beschäftigen. Nachdem er im Jahr 1984 das GNU-Projekt gegründet hatte, folgte ein Jahr später die Free Software Foundation (FSF), die seither weltweit für Freie Software und gegen z.b. Softwarepatente oder das Digital Rights Management (DRM) kämpft.

Als dann im Jahr 1991 der finnische Student Linus Torvalds die erste Version des Betriebssystemkerns Linux (Linux-Kernel) veröffentlichte, diese später unter die GPL-Lizenz stellte und in den folgenden Jahren das Internet rasant an Fahrt gewann, waren der Entwicklung Freier Software kaum noch Grenzen gesetzt. Tausende von Menschen programmierten, was das Zeug hielt und schufen viele nützliche Anwendungen. Heute existieren weit über hundert verschiedene GNU/Linux-Distributionen, vom einsteiger*innenfreundlichen Linux Mint bis hin zum hochspezialisierten Scientific Linux, das unter anderem im Forschungszentrum Cern Anwendung findet. Hinzu kommen abertausende von einfachen und hochkomplexen Anwendungen.

In der Geschichte der Freien Software wird die Ablehnung von Geheimwissen und geistigem Eigentum deutlich. So wurde bewusst das erlangte Wissen für alle offen zugänglich gemacht oder auf Anfrage weitergereicht und bei Problemen gemeinsam an deren Lösung gearbeitet. Solidarisches Handeln war eine Selbstverständlichkeit. Und so wird es auch heute noch gehandhabt.

Die Definition Freier Software

Freie Software unterliegt einer klaren Definition, die in vier Freiheiten (0-3) gegliedert ist4:

Ein Programm ist freie Software, wenn Nutzer des Programms die vier wesentlichen Freiheiten haben:

  • Die Freiheit, das Programm für jeden Zweck auszuführen (Freiheit 0).
  • Die Freiheit, die Funktionsweise des Programms zu untersuchen und eigenen Bedürfnissen der Datenverarbeitung anzupassen (Freiheit 1). Der Zugang zum Quellcode ist dafür Voraussetzung.
  • Die Freiheit, das Programm weiterzuverbreiten und damit seinen Mitmenschen zu helfen (Freiheit 2).
  • Die Freiheit, das Programm zu verbessern und diese Verbesserungen der Öffentlichkeit freizugeben, damit die gesamte Gemeinschaft davon profitiert (Freiheit 3). Der Zugang zum Quellcode ist dafür Voraussetzung.“

Aus anarchistischer Sicht finde ich die Freiheiten zwei und drei besonders interessant : „…und damit seinen Mitmenschen zu helfen“ und „…damit die gesamte Gemeinschaft davon profitiert“. Hier wird das Prinzip der Solidarität, der gegenseitigen Hilfe deutlich, das also in der Definition von Freier Software schon fest verankert ist.
Immer wieder für Kritik sorgt Freiheit 0, die Freiheit, das Programm für jeden Zweck ausführen zu dürfen. Das schließt wirklich alles ein, also auch z.B. die militärische und polizeiliche Nutzung. So steigt die russische Armee auf das debianbasierte Astra Linux um5 – weil Microsofts Windows zu unsicher sei. Die niedersächsische Polizei stieg aus Kosten- und Sicherheitsgründen schon 2003 auf Linux um6 und die französische Gendarmerie nutzt seit 2007 das auf Ubuntu basierende GendBuntu7. US-Militärdrohnen fliegen auf Basis des Linux-Kernels.8 Versuche, enstprechende Ausschlussklauseln (Non Military, Non Intelligence) oder – positiv formuliert – Zivilklauseln in die Freie Software-Lizenzen einzubauen, scheitern regelmäßig. Stallman argumentiert z. B., dass wir auch die Nutzung von Stiften, Telefonen und Schreibmaschinen nicht reglementieren könnten, nur weil sie auch für schlimme Zwecke benutzt würden.9
Der oftmals synonym benutzte Begriff Open Source-Software ist auf rein technischer Basis deckungsgleich mit Freier Software. Die dahinterstehende Philosophie legt aber keinen Wert auf den Begriff der Freiheit, klammert diesen sogar absichtlich aus, um niemanden zu verschrecken und marktfähiger zu sein. Die Vertreter*innen der Freien Software-Bewegung argumentieren, dass es aber diesen Begriff der Freiheit braucht, um das Wesen der Sache zu verdeutlichen und politische Bedeutung zu behalten. Seit einigen Jahren wird vermehrt die diplomatische Abkürzung FOSS oder FLOSS benutzt: Free (Libre) Open Source Software benutzt.
Desweiteren gibt es die sogenannte Freeware. Diese ist zwar kostenlos (frei wie in Freibier), aber ihr Quellcode ist meist geschlossen und proprietär.

Auch Freie Software unterliegt Lizenzen

„Lizenzen? Was kümmern mich die? Als Anarchist*in nutze ich halt gecrackte proprietäre Programme.“ Das ist eine u. a. auch aus finazieller Sicht verständliche und von vielen praktizierte Herangehensweise. Vielleicht auch mit dem Hintergedanken, dass mensch Microsoft und Co. eins auswischen würde. Oder einfach aus Bequemlichkeit und Gewohnheit heraus.

Also, wofür braucht eine Freie Software-Bewegung Lizenzen? Sind Lizenzen nicht per se Einschränkungen von Nutzungsmöglichkeiten? Nicht im Fall der Lizenzen, die für Freie Software entwickelt wurden. Sie garantieren den Fortbestand der gewährten Freiheiten innerhalb des bürgerlichen Rechtsstaates und der kapitalistischen Verwertungslogik. Das heißt zum Beispiel, dass ein einmal unter der GPL-Lizenz veröffentlichtes Programm, immer frei bleiben wird und auch alle Programme, die daraus weiterentwickelt werden.

Hier ein paar Beispiele:

Die Lizenz GPL
„Die GNU General Public License – die Allgemeine Öffentliche GNU-Lizenz – ist eine freie Copyleft-Lizenz für Software und andere Arten von Werken.“10
Die GPL ist sicher die bekannteste Lizenz, die das Copyleft garantiert. Formuliert wurde sie 1989 von Richard Stallman für sein GNU-Projekt, um zu sichern, dass die darin enthaltene Software frei bleibt.

Die Copyleftklausel
„Copyleft ist eine allgemeine Methode, ein Programm (oder anderes Werk) frei zu machen und zu verlangen, dass alle modifizierten und erweiterten Programmversionen ebenfalls frei sind.“11 Copyleft ist keine Lizenz, sondern ein wichtiger Bestandteil vieler Lizenzen, die bestimmte Freiheiten garantieren sollen.

Die Lizenz WTFPL (Do What The Fuck You Want To Public License)
Im Gegensatz zu allen anderen Lizenzen, die den Nutzer*innen die Freiheiten der Werke gewährleisten wollen, besteht die WTFPL nicht aus unzähligen Paragrafen, sondern nur aus einem Satz: „0. You just DO WHAT THE FUCK YOU WANT TO.“12 Sinngemäß in etwa „ Du machst einfach, was du verdammt nochmal tun willst.“. Die WTFPL kommt nur sehr selten zum Einsatz.

Es gibt ca. 30 Lizenzen für freie Inhalte. Diese beschränken sich schon lange nicht mehr nur auf Software, sondern befassen sich mittlerweile mit Kunst, Musik, Literatur, Wissenschaft und Technik. Besonders hervorzuheben sind hier die verschiedenen Creative Commons-Lizenzen.13 Natürlich bewegen sich die Lizenzen innerhalb des Rechts des jeweiligen Staates und sie sind nicht frei von Fehlern. Aber ich sehe sie als eine Art Notwehr an. So wie wir oft auch vor Gericht mit Paragrafen und Recht argumentieren, um uns zu verteidigen, so nutzen wir auch hier die Spielräume, die uns eingeräumt werden.

Die Verbreitung Freier Software

Um Freie Software zu nutzen, muss mensch kein Computernerd sein und auch nicht GNU/Linux auf dem PC installiert haben. Unzählige Programme verrichten unbemerkt von den Nutzer*innen ihre Arbeit in DSL-Routern, auf Servern, in Fernsehgeräten, Smartphones, DVD-Playern, Supermarktkassen und vielen anderen elektronischen Produkten.

Millionen Menschen nutzen z.b. den Internetbrowser Firefox, den Emailclienten Thunderbird, die Büropakete Openoffice oder Libreoffice, das Bildbearbeitungsprogramm Gimp, das Desktop Publishing-Programm Scribus (auch diese Zeitschrift wird mit ihm erstellt.), die Blogsoftware WordPress, die Filehosting Software Nextcloud, das Content Management System Drupal und zig weitere.
Die millionen Server, die das Internet bilden, werden zu einem Großteil mit Freier Software, meist Apache, betrieben.
Milliarden Smartphones laufen mit dem unfreien aber auf dem Linux-Kernel basierenden Android von Google. Immer mehr nutzen entgooglete, freie Androidversionen, wie z. B. LineageOS, /e/ OS oder CalyxOS.14
Zunehmend mehr Menschen nutzen komplette Betriebssysteme, die weitestgehend frei sind: GNU/Linux und seine Distributionen wie Linux Mint, Ubuntu, Debian Gnu/Linux , Open Suse, Arch Linux und viele andere. Menschen, die darauf angewiesen sind, dass sie keine oder kaum Spuren im netz hinterlassen, nutzen das auf Anonymität und Privatsphäre fokussierte Linux-Live-System Tails.15
Freie Software ist also weiter verbreitet, als die meisten Menschen annehmen würden. Das sagt aber noch nichts über ihre gesellschaftliche Wirkung aus. Diese kann sich erst dann entfalten, wenn die Menschen Freie Software mit Absicht nutzen, verbreiten und sich ihrer Freiheit bewusst sind.
Das tun z.B. linke und anarchistische Tech-Kollektive (Riseup, Autistici/Inventati, Disroot, Immerda, Calyx Institute…). Sie bieten Dienste, die auf Freier Software basieren, für (nicht nur) politische Einzelpersonen und Gruppen an. Sie tun das, weil sie den gesellschaftlichen Wert von Freier Software erkannt haben: Sie ist eines von vielen Werkzeugen im Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Technologie und der digitalisierten Gesellschaft ist hier wichtig. Wer denkt, Technologie könne gesellschaftliche Probleme lösen oder uns gar zur Sozialen Revolution führen, liegt falsch. Hier empfehle ich, sich z. B. mit den Texten von capulcu16 auseinanderzusetzen.

Wie entsteht Freie Software?

Da die Bedürfnisse der Menschen keine zufälligen sind, entstehen freie Softwareprojekte“17

Wir orientieren uns an den Bedürfnissen unserer Anwender und der Gemeinschaft für Freie Software.“18

Freie Software fällt nicht einfach so vom Himmel, sondern wird wie jede andere Software programmiert. Doch wer ist so frei und programmiert einfach so und meist, ohne dafür mit Geld entlohnt zu werden, all diese nützlichen kleinen und großen Programme? Allein für Debian Gnu/Linux (und somit auch für alle auf diesem basierenden Betriebssysteme wie Ubuntu oder Linux Mint) gibt es über 57.000 Programmpakete.19 Ungefähr 1000 offizielle Entwickler*innen programmieren für diese GNU/Linux-Distribution.20

Viele große (IT-) Konzerne unterstützen inzwischen Freie Software-Projekte aus reinem Eigennutz, da sie auf die Software angewiesen sind. Sie stellen Angestellte frei, damit diese zu den entsprechenden Programmen Code beitragen. Es gibt Schätzungen, dass ca. 90 Prozent des aktuellen Linux-Kernels von diesen programmiert wurden.21

Freie Software entsteht aber oft aus reinem Eigennutz: Ein*e Programmierer*in benötigt eine bestimmte Anwendung. Also wird sie programmiert und der Quellcode veröffentlicht. Andere Menschen finden das Programm nützlich, ergänzen den Code um weitere Funktionen, beseitigen Fehler und stellen den neuen Quellcode wiederum online. So kann um das Projekt herum eine Community entstehen, die das Programm betreut, stetig verbessert und aktualisiert. Anderen gefällt die Richtung, die das Projekt einschlägt nicht. Sie machen einen Fork (eine Abzweigung) und entwickeln das Programm in ihrem Sinne weiter und auch davon wird der Quellcode veröffentlicht. Freie Software folgt den Bedürfnissen der Menschen. Der russische Anarchist Pjotr Kropotkin (1842 – 1921) hätte dieses Organisationsprinzip und die Communities Freie Vereinbarungen genannt.

Vom Nutzen und Wert Freier Software

Der erste Antrieb Freier Software ist die Nützlichkeit. Der erste Konsument ist der Produzent. Es tritt kein Tausch und kein Geld dazwischen, es zählt nur die Frage: Macht die Software das, was ich will?“22

Fangen wir mit dem Wert an: Im Jahr 2012 wurde der Wert der damals aktuellen Version von Debian Gnu/Linux, Debian 7 „Wheezy“, grob auf 14,4 Milliarden € geschätzt.23 Doch diese Summe landete in keiner Geldbörse und auf keinem Konzernkonto. Sie wurde einfach nie erwirtschaftet.
Freie Software ist wertlos im besten Sinn des Wortes: Sie stellt sich außerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik, es macht keinen Sinn, sie zu verkaufen oder zu kaufen.
Freie Software ist aber nützlich. Sie erfüllt unzählige Zwecke, bietet viele Funktionen und kreiert so einen Freiraum, eine Nische in der durch und durch kapitalisierten Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Die Freie Software-Bewegung schafft das, was Anarchist*innen und Antikapitalist*innen im Großen erreichen wollen: Sie macht den Kapitalismus nutzlos und überwindet ihn. Das ist zwar erstmal auf die digitale Ebene beschränkt, wirkt aber immer mehr in die Gesellschaft hinein und berührt und verändert das materielle Leben.

Geld verdienen mit Freier Software

Das geht und kann auch ausdrücklich durch z.b. die GPL-Lizenzen erlaubt sein.
Es gibt durchaus Firmen, die mit Freier Software Geld verdienen. Sie bieten Freie Software an und lassen sich dann die Dienstleistung daran bezahlen: Schulung, Administration, Wartung und Pflege. Zu den Kund*innen zählen in erster Linie andere Firmen oder Behörden.
Auch viele Entwickler*innen und Programmierer*innen verdienen mit dem erstellen freier Software Geld im Auftrag großer Konzerne wie z. B. Google.
Ubuntu, eines der bekanntesten und am meisten genutzten GNU/Linux-Betriebssysteme für den Desktop und das Laptop, wird zu einem großen Teil von der Firma Canonical gesponsert, die einen Jahresumsatz von ca. 30 Millionen US-Dollar macht. Ihr Besitzer, der Millionär Mark Shuttleworth, ist bekennender Kapitalist und will mit Ubuntu irgendwann Geld verdienen.

Die Freie Hardware-Bewegung

Freies Hardware-Design
(Technische) Geräte, deren Baupläne (z.B. Schaltpläne, Leiterplattendesign) sowie Dokumentation (Bedienungsanweisungen, Interface-Definitionen etc.) unter freien Lizenzen wie der GPL genutzt werden können (der Informationsanteil ist frei im Sinne der vier Freiheiten, der materielle Anteil nicht). Handelt es sich bei der verwendeten Lizenz um die GPL, spricht man auch von GPL-Hardware.
Frei verfügbare Hardware
(Technische) Geräte, die darüber hinaus (ähnlich wie Freie Software und Freie Inhalte) allen Interessierten frei zur Verfügung stehen (was bedeutet, dass die materielle Knappheit an diesen Geräten überwunden sein muss).24

Die Idee der Freien Software schwappt auch hier und da auf das „Real Life“, die Hardware über oder besser gesagt zurück. Es entstand und entsteht eine Freie Hardware-Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Produkte ohne Lizenzbeschränkungen zu entwickeln. Das reicht von der Entwicklung eines freien 64-Bit-Hauptprozessors mit Linux über Prothesen und Traktoren bis hin zu Opencola.
Immer geht es dabei darum, Menschen uneingeschränkten Zugang zu Wissen und Information zu ermöglichen. Proprietäre Lizenzen sind hier oft die größten Hürden, da sie viel Geld kosten können. Gemeinsam entwickelt auch hier eine Community die Grundlage für ein Produkt, das allen Menschen zu gute kommt unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten.

0. Freiheit (primäre Freiheit): Die Freiheit, ein Werk für jeden Zweck einsetzen zu dürfen.
1. Freiheit (wissenschaftliche Freiheit): Die Freiheit, untersuchen zu dürfen, wie ein Werk funktioniert, und es den eigenen Bedürfnissen anzupassen.
2. Freiheit (soziale Freiheit): Die Freiheit, das Werk an andere weiterzugeben und Kopien für andere machen zu dürfen.
3. Freiheit (konstruktive Freiheit): Die Freiheit, das Werk zu verbessern zu dürfen unhttps://e.foundation/d diese Verbesserungen zum allgemeinen Wohl zugänglich zu machen.25

Diese vier Freiheiten zeigen deutlich die Nähe zur Freien Software-Bewegung. Die Umsetzung von der Idee zum fertigen Produkt ist bei Hardware natürlich ungleich aufwändiger, da wir es hier mit Materie und nicht nur mit Einsen und Nullen zu tun haben: Es braucht Werkzeug, Maschinen, Rohstoffe, Energie, Geld und vieles mehr.

Die anarchistische Bewegung und Freie Software

Nach meiner Beobachtung ist Freie Software und ihre Nutzung in der anarchistischen Bewegung stärker vertreten als im Rest der Gesellschaft. Zahlen dazu kenne ich keine. Gründe dafür sind meiner Meinung nach der antikapitalistische und libertäre Charakter Freier Software und die Möglichkeit sich mit einfachen Bordmitteln ein halbwegs sicheres System zusammenzustellen, das eine verschlüsselte Verwaltung und Weitergabe von Daten ermöglicht.
Auf der anderen Seite bin ich immer wieder überrascht, wie viele dann doch proprietäre Software nutzen. Eine Umstellung fällt schwer. Besonders, wenn mensch gerne die neuesten Spiele zockt oder auf bestimmte Software angewiesen ist, die es nur für Windows oder Apple-Hardware gibt.
Aber ich denke dennoch, dass die Gründe, die für Freie Software sprechen, uns als Anarchist*innen ansprechen müssten. Der Umstieg fällt leichter, wenn mensch sich Gleichgesinnte sucht, sei es online oder im echten Leben. Es gibt zu jeder GNU/Linux-Distribution und zu vielen freien Programmen eine Community und ein Forum, die Hilfe anbieten. In größeren Städten finden sich meist sogenannte Linux User Groups, die sich regelmäßg treffen und Veranstaltungen organisieren.
In organisierten anarchistischen Gruppen und Föderationen müsste es zu mehr Skill-Sharing kommen: Die Computer-Nerds der Gruppen bieten Workshops an, in denen Endgeräte auf Freie Software umgestellt, Gnu/Linux-Distributionen installiert werden und die Anwendung der Software geübt wird. Das hat auch den Effekt, dass sich Computer-Wissen allgemeiner verbreitet und Hierarchien abgebaut werden.

Aussichten

Die wenigsten Menschen hinter der Freien Software sind Anarchist*innen. Aber das müssen sie auch gar nicht sein. Das, was sie tun, trägt den Keim einer freieren Gesellschaft auch ohne Label in sich. Die Grundlagen sind vielversprechend und schon jetzt befruchten sie andere gesellschaftliche Bereiche und schaffen neue Ideen oder bringen Althergebrachtes wieder ans Licht.

Zur weiteren Verbreitung Freier Software tragen u. a. seit 2013 ungewollt die NSA und Konsorten („Was, die Geheimdienste überwachen unsere digitalen Daten?“; so stiegen seither die Nutzer*innenzahlen von Riseup-Diensten in nie gekannte Höhen) und ihre Datensammelwut bei. Denn aufgrund des offenen und somit von Menschen lesbaren Quellcodes kann eine Freie Software von vielen auf Sicherheit und Hintertüren kontrolliert werden. Sie bietet – werden bestimmte Regeln eingehalten wie z. B. gute einmalige Passwörter – mehr Schutz vor Ausspähung und Auswertung von Endgeräten durch Geheimdienste, Polizeien und Konzerne. So scheiterten z. B. die Bullen grandios daran, die beschlagnahmten Geräte der Betroffenen der linksunten-Razzien zu entschlüsseln.

Die Verwendung, Verbreitung, Programmierung und Unterstützung (ja, auch Geldspenden werden gerne angenommen) Freier Software ist Widerstand gegen den Status Quo. Nur darf es nicht dabei bleiben. Eine nur auf digitaler Ebene freiere Gesellschaft nutzt letztendlich niemandem. Eine gegenseitige Befruchtung tut not und geschieht schon hier und da.

In diesem Sinne: apt-get install anarchism!26

Nachtrag zu Richard Stallman (27.03.2021):
Im Jahr 2019 trat Stallman von seinen Ämtern im MIT und der FSF zurück. Grund dafür waren seine widerlichen, frauenfeindlichen Äußerungen im Zuge der Epstein-Affäre. Aber auch vorher ist er immer wieder durch sexistische Witze, transfeindliche Sprüche, Pädophilie verhamlosende Aussagen und seinen Ableismus aufgefallen. Er scheint da im großen und Ganzen lernresistent zu sein, manche seiner Aussagen hat er im Nachhinein abgemildert oder zurückgenommen. Hier findet ihr einige Links, die das Thema genauer beleuchten: 1, 2, 3
Ich bin durch diesen aktuellen Artikel auf golem.de auf das ganze Thema aufmerksam geworden: golem.de/news/fsf-suse-und-red-hat-fordern-stallmans-ruecktritt-2103-155279.html

Endnoten

¹ Die Originalversion könnt ihr hier nachlesen: https://nigra.noblogs.org/post/2013/10/28/alles-fuer-alle-und-zwar-umsonst-freie-software-und-anarchismus/ oder seit Anfang 2020 im linksunten-Archiv https://linksunten.archive.indymedia.org/node/98264/index.html (alle alten Links zu linksunten funktionieren somit wieder).

² Aus „Die Anarchie der Hacker – Richard Stallman und die Freie-Software-Bewegung“ von Christian Imhorst. Zum freien Download auf der Seite des Autors: https://texte.datenteiler.de/die-anarchie-der-hacker-ebook/

³ Siehe hier: https://stallman.org/articles/why-we-need-a-state.html

4 Siehe z.B. hier: https://www.gnu.org/philosophy/free-sw.de.html

5 Siehe z.B. hier: https://www.derstandard.at/story/2000104309796/russisches-militaer-wechselt-zu-linux-bundesheer-zu-windows-10

6 Siehe z.B. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Open-Source-Software_in_%C3%B6ffentlichen_Einrichtungen#Nieders%C3%A4chsische_Polizei

7 Siehe z.B. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Open-Source-Software_in_%C3%B6ffentlichen_Einrichtungen#Franz%C3%B6sische_Gendarmerie

8 Siehe z.B. hier: https://taz.de/Daten-von-US-Drohnen-leicht-zugaenglich/!5080213/

9 Siehe z.B. hier: https://fsfe.org/campaigns/gplv3/barcelona-rms-transcript.en.html#q11-banning-bad-use

10 Siehe z.B. hier: http://www.gnu.de/documents/gpl.de.html

11 Siehe z.B. hier: https://www.gnu.org/copyleft/copyleft.de.html

12 Siehe z.B. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/WTFPL
13 Siehe hier: https://creativecommons.org/licenses/?lang=de und https://de.wikipedia.org/wiki/Creative_Commons

14 Siehe hier: https://lineageos.org/, hier: https://e.foundation/ und hier: https://calyxos.org/

15 Siehe hier: https://tails.boum.org

16 Siehe hier: https://capulcu.blackblogs.org/

17 Aus „Linux und Co – Freie Software – Iddeen für eine andere Gesellschaft“ von Stefan Meretz

18 Aus dem Gesellschaftsvertrag von Debian, siehe auch http://www.debian.org/social_contract
19 Siehe z. B. hier: https://www.debian.org/releases/stable/amd64/release-notes/ch-whats-new.en.html#idm120

20 Siehe z.B. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Debian

21 Siehe hier: Broschüre der fsfe „Public Money – Public Code“, S. 12, Punkt 02 oder hier: https://download.fsfe.org/campaigns/pmpc/PMPC-Modernising-with-Free-Software.de.pdf

22 Aus „Linux und Co – Freie Software – Iddeen für eine andere Gesellschaft“ von Stefan Meretz

23 Siehe z.B. hier: https://www.golem.de/news/open-source-debian-projekt-auf-14-milliarden-euro-geschaetzt-1202-89793.html

24 Siehe hier: https://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Freie_Hardware

25 Siehe z. B. Hier: https://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Vier_Freiheiten

26 Befehl für die Kommandozeile in Debian und debianbasierenden GNU/Linux-Distributionen, um die FAQ zum Thema Anarchismus auf englisch herunterzuladen. Zu finden ist diese umfangreiche Textsammlung zum Thema Anarchismus dann im Dateisystem unter /usr/share/doc/anarchism (die html-Dateien lassen sich in einem Browser öffnen) oder immer (auch für Nutzer*innen anderer Betriebssysteme) auf http://www.infoshop.org/AnAnarchistFAQ]

Veröffentlicht unter Anarchismus, Antikapitalismus, Computersicherheit, Freie Software, Geschichte, Verschlüsselung | Kommentare deaktiviert für Alles für alle und zwar umsonst… Freie Software und Anarchismus

Zero Covid – Realismus in Zeiten der Pandemie

Die Kampagne Zero Covid wird von vielen Linken und natürlich auch von ganz anderer Seite als autoritär und nicht durchführbar bezeichnet, da sie das tägliche Leben noch härter und tiefgreifender herunterfahren wolle. Darum könne sie auch gar nicht links sein.

Ich frage mich, was autoritärer ist: Das ständige willkürliche Hin und Her von Lockerungen und Einschränkungen; der Zwang, trotz hohem Ansteckungsrisiko weiterhin zur Maloche gehen zu müssen und im Gegenzug in der Freizeit alleine zu versauern; geschlossene Grenzen für Menschen, offene für Warenverkehr…

Die Idee von Zero Covid ist ein zeitlich beschränkter, solidarischer, radikaler Shutdown von Arbeit und Freizeit, um null Ansteckungen zu erreichen. Das ist zwar hart aber das Ende ist absehbar. Und genau das – das Ende der Pandemie – ist beim derzeitigen Affentheater in weite Ferne gerückt. Was ja auch klar ist: Wir gehen alle weiterhin arbeiten, leben weiterhin in beengten Verhältnissen, viele in Sammelunterkünften, quetschen uns weiterhin im öffentlichen Nahverkehr zusammen und stecken uns alle gegenseitig an. Da helfen die krassen Einschränkungen im Privaten wenig.

[Comic aus der Zero Covid-Zeitung; Künstler*in: foxitalic.de]

Hier wird eines ganz deutlich: Die Politik folgt im Großen und Ganzen den Kapitalinteressen. Dass das grundsätzlich keine gute Idee ist, sagen wir linksgrünversifften Anarcho-Kommie-Gutmenschen ja schon lange. Jetzt in der Pandemie sind alle Scheinwerfer auf diese Art des Rumwurschtelns gerichtet.

Also sollten wir jetzt doch mal zur Abwechslung das Richtige tun: Lasst uns nicht den Kapitalinteressen folgen, sondern den Bedürfnissen der Menschen. Und diese sind: Gesundheit, Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf und soziale Bindungen.
„Ahhhhrghhh, aber wer soll das alles zahlen? Dafür ist doch kein Geld da!“ Doch, natürlich ist dafür Geld da und zwar in Hülle und Fülle. Erstens haben sich die reichsten der Reichen an Corona dumm und dämlich verdient: Her mit der Kohle! Sie gehört sowieso uns! Und zweitens können bestimmte Banken Geld einfach so aus dem Nichts erschaffen. Das wurde z. B. während der Finanzkrise 2008 im großen Stil getan, um systemrelevante Banken und Konzerne zu retten. Die Zeiten, in denen das sich in Umlauf befindliche Geld durch Gold gedeckt sein musste, sind schon lange vorbei. Das heißt, dass alle Menschen, die finanzielle Unterstützung während eines solidarischen Shutdowns benötigen, diese auch erhalten könnten. Wenn die Politik das beschließen würde.

[Comic aus der Zero Covid-Zeitung; Künstler*in: foxitalic.de]

[Comic aus der Zero Covid-Zeitung; Künstler*in: foxitalic.de]

Vor fünf Tagen ist nun die erste Ausgabe der Zero Covid-Zeitung (hier auch als PDF)erschienen. Sie ist inhaltlich gut aufgestellt: Sie bildet den pandemischen Istzustand und wie es zu ihm kommen konnte ab ohne zu polemisieren oder rumzujammern. Und sie bietet Lösungsvorschläge und fordert uns alle auf, aktiv zu werden.

Also, Leute, hier ist sie, die lang ersehnte linke Intervention gegen die Pandemie und die staatlich-kapitalistischen, halbherzigen Versuche diese zu bekämpfen um gleichzeitig Business as usual betreiben zu können.

Für mich ist Zero Covid die einzige ernst zu nehmende breit aufgestellte linke Kampagne zum Thema Corona (hier spannt sich der Bogen von Anarch@s, Gewerkschafter*innen über Kommies und Kulturschaffenden bis hin zu parteilich und anders organisierten Leuten).
Sie ist eine gut durchdachte (nicht perfekte!) und vor allen Dingen machbare Intervention. Sie ist nicht utopisch, militanzromantisch, revolutionär oder gar anarchistisch – sie ist pragmatisch radikal und das auf solidarischer Basis.

Zero Covid – Solidarität in den Zeiten der Pandemie

Veröffentlicht unter Antikapitalismus, Arbeitskampf, Aufruf, Corona, Diskussion, Gedanken, Solidarität | 2 Kommentare

10 Jahre tunesische Revolution: aktueller Text auf SchwarzerPfeil

Im Januar 2011 erlebte Tunesien eine Revolution, die sich zum sogenannten arabischen Frühling ausweitete und bis heute Nachbeben erzeugt.

Ich habe damals einige Texte dazu geschrieben [1, 2, 3, 4, 5], das Thema dann aber aus den Augen verloren.

Auf SchwarzerPfeil ist nun eine lesenswerte Übersetzung eines aktuellen CrimethInc.-Textes erschienen. Geschrieben hat ihn ein*e Tunesier*in.

 

 

Veröffentlicht unter Anarchismus, Antikapitalismus, Bericht, Bewerbung, Krieg, Repression, Revolution, Solidarität, Übersetzung | Kommentare deaktiviert für 10 Jahre tunesische Revolution: aktueller Text auf SchwarzerPfeil

Wahlqual 2021 – Teil 6

Wählt uns: Wir, die Klimaliste denken und handeln für euch!

Das Super-Wahljahr hat begonnen: In Baden-Württemberg stehen im März Landtagswahlen und in Schland im September Bundestagswahlen an. Wir haben wieder die Wahl der Qual. Ich werde mich hier hin und wieder über die lästigen, peinlichen und lügenden Wahlplakate der unterschiedlichen Parteien lustig machen. Heute ist die neue Partei KlimalisteBW dran.

Ein schlichtes, in grün gehaltenes Plakat mit dem Spruch „Für alle, die auf Taten warten“ der Partei KlimalisteBW schreit mich an: „Wähl uns: Wir, die Klimaliste denken und handeln für dich!“. Das ist die Essenz der parlamentarischen Demokratie auf engsten Raum gequetscht. Gib deine Stimme ab, beauftrage XY mit irgendwas und XY wird es für dich erledigen. Du brauchst nicht weiter tätig werden, das Warten auf Taten hat ein Ende, denn jetzt ist XY am Start. Alle haben auf genau ihn*sie gewartet. Puh, endlich unternimmt jemensch was…oder XY macht dann doch, was er*sie will. Oh…

Beim Kampf gegen die Klimakrise brauchen wir keine Avangarde die für uns handelt, sondern wir brauchen schlicht überall an allen Ecken und Enden Menschen und Organisationen, die handeln. Das kann im Angesicht der drängenden Zeit von mir aus auch eine Partei sein (meine Sicht darauf habe ich hier näher ausgeführt). Zum Glück haben die Menschen mit ihren Taten nicht auf die KlimalisteBW gewartet, sondern überall auf der Welt schon mal ohne sie angefangen. Die Klimaliste ist eine Folge davon und nicht umgekehrt.

System change – not climate change!

Veröffentlicht unter Anarchismus, Gedanken, Klimakrise, Ökologie, Wahlen | Kommentare deaktiviert für Wahlqual 2021 – Teil 6

Wahlqual 2021 – Teil 5

Die Partei Die Partei hängt Plakate auf und die Bullen hängen sie wieder ab

Das Super-Wahljahr hat begonnen: In Baden-Württemberg stehen im März Landtagswahlen und in Schland im September Bundestagswahlen an. Wir haben wieder die Wahl der Qual. Ich werde mich hier hin und wieder über die lästigen, peinlichen und lügenden Wahlplakate der unterschiedlichen Parteien lustig machen. Heute ist die ehemalige Satire-Partei Die Partei dran (auch wenn ich mich in diesem Fall nicht über deren Plakate lustig mache).

Nazis töten! Nazis töten? Nazis töten. Satzzeichen haben in der deutschen Schriftsprache schon eine gewisse Wichtigkeit: Sie verleihen dem vorangestellten Satz seine Bedeutung. Ist er eine Aufforderung, eine Fragestellung (sie wie dieser Satz) oder eine schlichte Aussage? Dass mit solchen Feinheiten deutsche Staatsanwaltschaften und Durchschnittsbullen überfordert sein könnten, liegt nahe und wird hin und wieder durch entsprechende Aktionen bewiesen. So hat es dieses Jahr auch die Offenburger Ortsgruppe der Satire-Partei Die Partei getroffen. Sie haben das schon mehrmals in anderen Städten inkriminierte Plakat „Nazis töten.“ in der Stadt aufgehängt. Prompt gab es eine Anzeige (von wem wohl? Taras „Gollum“ Maygutiak, übernehmen Sie!) und die Offenburger Staatsanwaltschaft und Provinzbullen haben nichts besseres zu tun, als zu springen: Alle entsprechenden Plakate wurden von ihnen abgehängt. Dass in allen anderen Fällen die Ermittlungen eingestellt wurden, interessiert hier nicht.
Zur Zeit wird ein Strafantrag gegen den lokalen Boss der Partei geprüft.
Tja, Business as usual.

 

 

 

 

 

 

 

Business es usual gilt inzwischen auch für die Alltagsgeschäfte der Partei: Auch bei ihr geht es darum, Pfründe zu sichern (immerhin beträgt allein der Grundbezug im EU-Parlament über 8000 € im Monat), innerparteiliche und persönliche Streitereien offen auszutragen, Machtspielchen zu zelebrieren und die Satire des anderen als „Das ist keine Satire mehr!“ zu brandmarken. Selbst die männerlastige Satire-Partei ist sich scheinbar nicht mehr sicher, ob Satire alles darf. Bin ich mir übrigens auch nicht.

Nachtrag 17.02.2021: Inzwischen mussten die Bullen die Plakate wieder aufhängen…

Veröffentlicht unter Antifaschismus, Diskussion, Repression, Wahlen | Kommentare deaktiviert für Wahlqual 2021 – Teil 5

Wahlqual 2021 – Teil 4

Neusprech im Ländle – George trifft Winnie

Das Super-Wahljahr hat begonnen: In Baden-Württemberg stehen im März Landtagswahlen und in Schland im September Bundestagswahlen an. Wir haben wieder die Wahl der Qual. Ich werde mich hier hin und wieder über die lästigen, peinlichen und lügenden Wahlplakate der unterschiedlichen Parteien lustig machen. Heute ist die ehemalige Revoluzzer*innen- und Turnschuh-Partei Die Grünen dran.

Die Partei Die Grünen war mal in den 1980er Jahren Hoffnungsträgerin vieler Ökos, Linker, Alternativen und Antiautoritären (ja, echt jetzt…). Das ist lange her. Schon sehr früh bewahrheitete sich auch hier die Binsenweisheit „Macht korrumpiert“ und es zeigte sich einmal mehr, wie naiv die Strategie des „Gangs durch die Institutionen“ ist. Die Befürwortung von Kriegseinsätzen und die Umsetzung der Agenda 2010 inklusive des schikanösen Hartz IV-Systems zeigten endgültig wo die Reise hingehen würde.

Seit 2011 (gepuscht durch den Streit um den Bau des Stuttgarter Hauptbahnhofes und die brutalen Bulleneinsätze am 30. September 2010 mit vielen Schwerverletzten) ist nun ein ehemaliger KBWler, gläubiger Katholik und auch ansonsten autoritärer Knochen unser aller Landesvater (ich habe ihm das Umgangsrecht mit mir entzogen…). Er will es bleiben. Dafür sind ihm keine Methoden zu heftig: Scheinbar wird über die Einführung von Neusprech nachgedacht. Erste Versuche können wir auf einem aktuellen Plakat lesen: „Bewahren heißt verändern“. Orwell hätte seine wahre Freude an diesem Aufgreifen einer der Kontrollmethoden in seinem Roman 1984 gehabt: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei und Unwissenheit ist Stärke. Und jetzt eben noch Bewahren heißt verändern.

Uarghhhh, wie komme ich hier raus?

(Jaja, ich weiß, ist natürlich gaaaanz anders gemeint…)

Veröffentlicht unter Anarchismus, Gedanken, Ökologie, Wahlen | Kommentare deaktiviert für Wahlqual 2021 – Teil 4

Wahlqual 2021 – Teil 3

Schaffe, schaffe, Häusle baue

Das Super-Wahljahr hat begonnen: In Baden-Württemberg stehen im März Landtagswahlen und in Schland im September Bundestagswahlen an. Wir haben wieder die Wahl der Qual. Ich werde mich hier hin und wieder über die lästigen, peinlichen und lügenden Wahlplakate der unterschiedlichen Parteien lustig machen. Heute ist die Verräter-Partei SPD dran.

Einer dieser Riesenaufsteller, sicher sechs Quadratmeter groß, der SPD hat es mir besonders angetan. In riesigen Lettern prangt mir der Slogan „Arbeit sichern“ entgegen und in kleinerer Schrift darunter „Das Wichtige jetzt“. Den Hintergrund bildet eine Arbeitssituation aus der metallverarbeitenden Industrie. Ein Trennschleifer lässt Funken sprühen, ein Spezialhammer liegt über der Schrift: Im Ländle wird noch angepackt, da macht Arbeit noch so richtig dreckig.

Hier zeigt sich der widerliche Arbeitsfetisch der Sozis. Auf der einen Seite vielleicht Überbleibsel eines protestantischen Arbeitsethos (schließlich wurde die Partei in großen Teilen in ihren Anfängen von protestantischen Arbeiter*innen getragen), den ja auch ihr großer Vorsitzender August Bebel vor sich hertrug. So sagte er u. a.: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Auch Adolf Hitler hat sich dieses Bibelzitats bedient, ebenso wie Stalin und viele andere autoritäre Politiker*innen der letzten 100 Jahre: Das Volk soll schuften, der Rubel muss rollen, der Schädel brummen und der Rücken schmerzen. Wer abends k.o. vor der Glotze einschläft, hat keine Power mehr, um aufzumucken.

Auf der anderen Seite und auf die Pandemie bezogen meint das Plakat, dass wir alle auf Teufel komm raus malochen sollen, egal, ob wir uns alle gegenseitig anstecken: Das Wichtige jetzt! Nicht unser Wohlergehen steht im Vordergrund, sondern nur und einzig der Erhalt von Profit und Wachstum. Das Wichtige jetzt…

Veröffentlicht unter Anarchismus, Antikapitalismus, Corona, Gedanken, Wahlen | Kommentare deaktiviert für Wahlqual 2021 – Teil 3

Wahlqual 2021 – Teil 2

Die AfD im Mülleimer der Geschichte

Das Super-Wahljahr hat begonnen: In Baden-Württemberg stehen im März Landtagswahlen und in Schland im September Bundestagswahlen an. Wir haben wieder die Wahl der Qual. Ich werde mich hier hin und wieder über die lästigen, peinlichen und lügenden Wahlplakate der unterschiedlichen Parteien lustig machen. Heute ist die Nazi-Partei AfD dran.

Klar, eigentlich gehören aus anarchistischer Sicht alle Wahlplakate in den nächstgelegenen Mülleimer und das wird ja auch oft praktiziert. Aber bei keiner Partei freut es mich so sehr wie bei der Nazi-Partei AfD. Auch deswegen, weil sich die braunblauen Kamerad*innen darüber am meisten aufregen. Schon im Vorfeld jeder verkackten Wahl jammern sie die unsozialen Netzwerke voll und beschweren sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in jedem Provinzblatt, das ihnen dafür eine Bühne bietet, darüber, dass ihre – obwohl sie in oft über drei Meter Höhe angebracht sind – liebevoll gestalteten Plakate immer so schnell verschwinden würden.

Könnte das etwas damit zu tun haben, dass sogar aufrechte Demokrat*innen die rassistische, sexistische, queerfeindliche, nationalistische etc. Propaganda nicht ertragen können? Oder steckt hinter diesen nächtlichen Aktionen doch wieder wie immer Antifa e. V.? Bezahlt vom Weltjudentum mit Rothschildgeld? Taras „Gollum“ Maygutiak, übernehmen Sie!

[Danke für das Zusenden des Fotos]
Veröffentlicht unter Anarchismus, Antifaschismus, Gedanken, Wahlen | Kommentare deaktiviert für Wahlqual 2021 – Teil 2

Wahlqual 2021 – Teil 1

Revolution in Baden! FDP mit uns auf den brennenden Barrikaden!

Das Super-Wahljahr hat begonnen: In Baden-Württemberg stehen im März Landtagswahlen und in Schland im September Bundestagswahlen an. Wir haben wieder die Wahl der Qual. Ich werde mich hier hin und wieder über die lästigen, peinlichen und lügenden Wahlplakate der unterschiedlichen Parteien lustig machen. Den Anfang macht die FDP.

Die ersten Plakate hängen (die AfD war wieder mit besonders hohen Leitern unterwegs, wird ihr aber nichts nützen…) und stehen schon und erinnern uns daran, dass wir alle paar Jahre „Politik machen“ dürfen. Dürfen, nicht müssen: In manchen Ländern gibt es ja sogar eine Wahlpflicht.

Die diesjährigen Plakate unterscheiden sich in Nichts von denen der letzten Jahrzehnte – bis auf eins: Die FDP ruft zur Revolution auf! Und zwar zur „Badischen Revolution 2.0“. Juhu, Genoss*innen, willkommen an Bord…oder etwa nicht?

Badische Revolution, da war doch mal was? Ja, stimmt: Sie wollte die Herrschaft der Adligen überwinden und forderte die Souverernität des Volkes ein. Der Radikaldemokrat Friedrich Heckers stellte 1847 in Offenburg die 13 Forderungen vor (z. B. „Die Polizei höre auf, den Bürger zu bevormunden und zu quälen.“ Hat ja super geklappt…). Die Forderungen waren umfassender und radikaler als die der damaligen Liberalen. Die folgende sogenannte Badische Revolution war aber mitnichten ein südwestdeutsches Phänomen, sondern eingebettet in eine europaweite Bewegung. Überall wurde gegen Fremdherrschaft, den Adel, ungerechte Machtverteilung u.v.m. gekämpft. der Anarchist Michail Bakunin stand auch auf den Barrikaden.
Trotz allem konnte die einzige Revolution, die in Deutschland fast eine geworden wäre, keine werden: immer noch zu reformistisch waren die Forderungen. Radikale Veränderungen der (Besitz-) Verhältnisse fanden nicht statt und wurden in diesem Kontext auch nicht konsequent gefordert. Die Alten unterdrückenden Machtstrukturen wurden lediglich durch neue unterdrückende Machtstrukturen ersetzt.

Ilse Hecker agitiert die Massen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Will die FDP also – wie Hecker, Struve und Co. damals die Feudalherrschaft – die bestehende Ordnung umstürzen? Will sie die parlamentarische Demokratie abschaffen? Will sie die Soziale Revolution lostreten? Will sie vielleicht eine anarchistische Weltgemeinschaft aufbauen?
Nö, sieht nicht so aus. Zumindest in ihrem Offenburger Wahlprogramm findet sich das Wort Revolution nämlich genau null mal. Nur das übliche Parteien-Blabla. Also, alles nur hohles Gewäsch und ein weiteres Beispiel für den inflationären, inhaltsleeren Gebrauch des Begriffs Revolution. Wenn er schon für Autowerbung herhalten musste, dann kann ihn auch die FDP missbrauchen. Schnell noch das fancy 2.0 drangeklebt und sie betritt damit sogar das Neuland…
Aber wer hätte auch wirklich angenommen, dass die Kleinpartei FDP eine Revolution will? Und wenn auch nur eine bürgerliche. Oder marktradikale mit Minimalstaat. Eben. Niemensch. Ist ja auch irgendwie gut so.

Kleine Anekdote: Vor vielen Jahren bin ich mal auf einem Flohmarkt über das Buch Anarchie – Staat – Utopia von Robert Nozick gestolpert. Der Titel interessierte mich als Anarchist natürlich, der Name des Autors sagte mir nichts (erst später lernte ich, dass Robert Nozick ein marktradikaler US-Libertärer war) und so nahm ich es in die Hand, um darin herumzuschmökern. Ich kam bis zum Vorwort. Es wurde verfasst vom damaligen FDP-Granden und Steuerhinterzieher Otto Graf von Lambsdorff. Ich legte es wieder weg und ging meiner Wege.

Veröffentlicht unter Anarchismus, Gedanken, Revolution, Wahlen | Kommentare deaktiviert für Wahlqual 2021 – Teil 1

Thessaloniki: Libertatia wiederaufbauen!

[Hier ein Text und Spendenaufruf von Ralf Dreis. Das Original findet ihr hier.]

Das 2018 von Nazihooligans niedergebrannte anarchistische Zentrum Libertatia in Thessaloníki wird wiederaufgebaut. Es soll ein lebendiges Bollwerk des antifaschistischen Kampfes werden. An der Geschichte des Hauses wird deutlich, dass Thessaloníki nicht immer so griechisch und christlich-orthodox war, wie Nationalisten behaupten.

Seit dem Beginn der Hausbesetzung 2008 sind Aktivist*innen der Libertatia an den gesellschaftlichen Kämpfen in Thessaloníki beteiligt. Genannt seien hier nur die Solidaritätsaktionen mit Geflüchteten, der Kampf gegen die Sonntagsarbeit an der Seite von Basisgewerkschaften, oder die Verteidigung der von Räumung bedrohten selbstverwalteten Seifenfabrik Vio.Me, die seit 2012 von Arbeiter*innen besetzt ist.

Heute ist das ausgebrannte neoklassizistische Gebäude von einem hohen Metallzaun umgeben. Die leeren Fensterhöhlen laden nicht unbedingt zum Verweilen ein.

Während der nationalistischen Mobilisierung im Zuge des Namensstreits mit dem griechischen Nachbarstaat Nordmazedonien, hatte ein Mob von 150 Nazis und rechten Fußballhooligans, am 21. Januar 2018, das Libertatia angegriffen. Mehrere Nationalisten traten die Tür ein und legten Feuer im Inneren des Hauses, das bis auf die Grundmauern abbrannte.

Es gab keine Festnahmen, im Gegenteil. Die anwesenden Polizeitruppen geleiteten den Mob in der Folge zurück zur „Mazedonien ist griechisch“ Kundgebung. Auf der hatten sich 90.000 Nationalist*innen, rechtsextreme Organisationen, die inzwischen als kriminelle Vereinigung verurteilte Nazipartei Chrysí Avgí und große Teile des orthodoxen Klerus versammelt. Es ging einmal mehr um den seit 1990 schwelenden Streit beider Länder um das Anrecht auf den Namen Mazedonien. Wegen des Streits blockierte Griechenland die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen und den Nato-Beitritt des Nachbarlands. Im Juni 2018 einigten sich die Regierungen schließlich darauf, dass Letzteres künftig Nordmazedonien heißen solle.

Bereits zu Beginn der Kundgebung im Januar 2018 hatten rund 100 Nazis zunächst das besetzte soziale Zentrum „Schule zum Erlernen der Freiheit“ angegriffen, danach das Libertatia. Beide Angriffe konnten abgewehrt werden. Als die Rechtsextremen später bei einem zweiten Angriff das anarchistische Zentrum anzündeten, waren die Besetzerinnen und Besetzer auf einer antifaschistischen Gegenkundgebung, das Haus ungeschützt. Am Abend darauf nahmen über 2 500 Menschen an einer Solidaritätsdemonstration für das Libertatia teil. Starke Polizeikräfte griffen die Demonstrierenden mit Tränengas und Blendschockgranaten an.

Ein neues Dach für Libertatia

Die Fortschritte beim Wiederaufbau der Ruine sind beeindruckend. Das neue Dach ist fast fertig. Zwischendecken werden eingezogen und im kleineren Hinterhaus sind einzelne Räume schon verputzt und gestrichen. Am schlimmsten sei es gewesen, betont eine Aktivistin, die Tonnen von Bauschutt und verbrannten Balken zu entsorgen. Wochenlang habe man Dreck geschippt. Danach sei es besser geworden, doch es gehe nur langsam voran. Dies liege einerseits am Geldmangel, dann sei noch der Corona-Lockdown hinzu gekommen, und nicht zu vergessen die andauernde Repression durch die Polizei. Wiederholt seien während der Bauarbeiten starke Polizeieinheiten angerückt, zwei Mal wurden während der Arbeit Leute festgenommen, Baumaterial sowie Werkzeuge beschlagnahmt, zuletzt am 23. August 2020. Um das Dach fertig stellen zu können mussten die Besetzer*innen zu einer Kundgebung am Haus mobilisieren. Während dann 250 Leute fünf Stunden lang um das Haus ausharrten, waren andere auf dem Dach um die Bretter zu vernageln. Das zeigte zwar an diesem Tag die momentanen Grenzen staatlicher Macht, doch kosten solche Aktionen viel Kraft.

Seit Regierungsantritt der rechten Néa Dimokratía im Sommer 2019 hat sich die Repression gegen den inneren Feind extrem verschärft. „Bürgerschutzminister“ Michális Chrysochoídis, ein ehemaliger Sozialdemokrat und Law-and-Order-Hardliner, hat die von Faschisten durchsetzten Polizeitruppen endgültig von der Leine gelassen. Noch im Sommer 2019 ließ er die meisten Flüchtlingsbesetzungen in Athen räumen, in der Folge immer wieder anarchistische Besetzungen. Brutales polizeiliches Vorgehen bis hin zur Folter von Demonstrant*innen bleiben folgenlos. Für die Beamt*innen herrscht Straffreiheit bei ihren Einsätzen gegen Geflüchtete, Kommunist*innen und Anarchist*innen. Obwohl im August 2020 das wichtige besetzte anarchistische Zentrum Terra Incognita in Thessaloníki geräumt wurde, sind die Aktivist*innen von Libertatia optimistisch. „Es ist nicht einfach uns zu räumen, da wir viel Unterstützung erhalten. Das Verhältnis zu den meisten Leuten in der Nachbarschaft ist hervorragend. Und alle sehen was hier geschieht. Gegen die rechtsradikalen Brandstifter wird nicht einmal ermittelt obwohl Filme der Tat im Netz stehen, und gegen uns laufen 16 Strafverfahren wegen Beschädigung eines Baudenkmals und illegaler Arbeiten, weil wir das Haus wieder aufbauen. Ein Baudenkmal im Übrigen, dass vor der Besetzung 2008 über 30 Jahre lang verrottete, ohne das es die Behörden interessierte die inzwischen vom Schmuckstück in der Avenue Stratoú reden.“

Das einzige erhaltene neoklassizistische Gebäude in der Avenue Stratoú wurde 1899 erbaut. Bis zu ihrem Tod 1941 gehörte es einer jüdischen Türkin, die es von ihrem Ehemann, einem in Thessaloniki tätigen türkischen Staatsanwalt, geschenkt bekommen hatte. Das Gebäude wurde Jahrzehnte zwischen staatlichen Behörden hin und her geschoben. In den neunziger Jahren gehörte es der teilprivatisierten Universität Makedonia in Thessaloniki, seit Anfang der nuller Jahre machen vier türkische Bürger aus Izmir Rückübertragungsansprüche geltend.

An der Geschichte des Hauses wird deutlich, dass die griechische Region Makedonía und ihre Hauptstadt Thessaloníki nicht immer so griechisch und christlich-orthodox waren, wie Nationalisten behaupten. Bis vor nicht einmal 100 Jahren lebten in der Stadt über 70 000 Türkinnen und Türken, rund 60 000 sephardische Jüdinnen und Juden sowie 30 000 Griechinnen und Griechen, zudem Sinti und Roma, bulgarische, slawische und albanische Minderheiten. 1922/1923 wurde die türkische Bevölkerung im Zuge des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs vertrieben. Die jüdische Bevölkerung wurde 1942/1943 in deutsche Konzentrationslager deportiert und ermordet. Viele Griechinnen und Griechen haben diesen Teil der Stadtgeschichte verdrängt.

Nach den erfolgreichen 3-tägigen Feierlichkeiten zum 12-jährigen Besetzungsjubiläum Mitte Oktober 2020 gelang es den Besetzerinnen und Besetzern Ende November ohne weitere polizeiliche Störung die schweren Teerbahnen zu verlegen. Das Dach ist damit kurz vor Beginn der Regensaison winterfest. Um den Wiederaufbau des Hauses als antifaschistisches Zentrum im kommenden Jahr ein gutes Stück voranzutreiben, startet nun im Winter eine Spendenkampagne.

Text: Ralf Dreis, Thessaloníki
Bilder: Leftéris Epanastátis, Thessaloníki
Spenden unter dem Stichwort „Libertatia“ bitte an:

FAU-Frankfurt a.M.
IBAN: DE24 5005 0201 0107 9966 96
BIC: HELADEF1822
Frankfurter Sparkasse

Veröffentlicht unter Anarchismus, Antifaschismus, Antikapitalismus, Freiräume, Solidarität | Kommentare deaktiviert für Thessaloniki: Libertatia wiederaufbauen!