Neulich im Supermarkt…“Der Ball muss rollen!“

[Die Gegenwart hat diesen Text eingeholt: Der Ball rollt endlich wieder…]

WG-Großeinkauf in Corona-Zeiten zu machen, ist scheiße, u.a. weil wahrscheinlich alle anderen Leute denken, mensch würde hamstern. Dann auch noch nach dem 1. Mai und vor einem Sonntag. Aaargh…und Pfandflaschen abgeben. Naja, aber eine*r muss den Job machen und der*die Held*in der Arbeit bin heute ich. Endlich am Pfandautomaten angekommen, beginne ich unsere gefühlten hunderte von Flaschen (scheiße, fast alles Bierflaschen. Peinlich…) in den Automaten zu füllen. Am anderen Automaten neben mir tut ein Typ das gleiche mit seinen Flaschen. Plötzlich ein großes Hallo: Er trifft einen Kumpel und sofort beginnt ein lautes, dröhnendes Gespräch über – tja, was wohl – Corona. Ich kann gar nicht anders, ich muss zuhören. Die Lautstärke lässt gar nichts anderes zu.

Pfand-Typ:“Na, wie läuft’s?“
Kumpel:“Haja, muss ja. Wird ja alles langsam besser.“
Pfand-Typ (laut):“Was? Besser? Alles wird schlechter! Ich glaub echt gar nichts mehr! Ich glaub echt alles! Die verarschen uns doch alle!“
Kumpel:“Haja, vielleicht. Kann schon sein. Wir wissen es halt nicht.“
Pfand-Typ (lauter):“Klar wissen wir es. Ist doch alles Betrug. Was sollen wir denn noch alles tun? Jetzt auch noch Masken! Die spinnen doch! Die verarschen uns doch alle! Hilft doch alles nichts! Da stirbt doch keiner dran! Kennst du einen, der dran gestorben ist?“
Kumpel:“Haja, weiß nicht…“
Pfand-Typ (noch lauter):“Na klar! Kann doch jeder sehen! Die haben den Scheiß doch im Labor gezüchtet! Ist doch alles abgekartet! Weiß doch jeder!“
Kumpel:“Haja, kann schon sein, aber…“
Pfand-Typ (noch viel lauter):“Alles abgesagt und verboten! Ich hab die Schnauze voll! Viel fehlt nicht mehr und ich dreh durch! Ich schlag alles zusammen! Ich dreh durch! Ich schlag alles zusammen! Wenn wenigstens Bundesliga wäre! Verdammte Scheiße! Ich hab die Schnauze voll! Sogar Fußball gibt’s nicht mehr! Ja, spinnen die denn total? Fußball! Zum Kotzen! Ich dreh durch! Weißt du, ich lass mir ja viel gefallen und nehm alles hin! Aber die Bundesliga! Ich will Fußball kucken! Weißt du, mir ist doch alles scheißegal! Von mir aus kann alles kaputt gehen! Alles soll den Bach runter gehen! Sollen doch alle verrecken! Aber Fußball? Ich sag nur eins: Der Ball muss rollen! Ich kotz gleich! Ich schlag alles zusammen! Ich will meine Bundesliga wieder! Der Ball muss rollen!“
Kumpel:“Haja, du, ich muss los. Tschau.“
Pfand.Typ (laut):“Der Ball muss rollen! Ja, tschau dann.“*

Ich war echt geschockt von diesem wirren, widersprüchlichen Gespräch und der überschäumenden, hasserfüllten Emotionalität des Pfand-Typen. Meine erste Reaktion war, ihm meinen leeren Bierkasten in die Fresse zu hauen, weil mein Schubladisierungs-Programm ihn schon in die AfD/Wutbürger*innen/Verschwörungsideolog*innen-Kartei gesteckt hatte. Aber da ich im tiefsten Inneren ein Hippie bin, hab ich das dann gelassen und mich in den Supermarkt begeben, um das alles hinter mir zu lassen.

Hinter mir lassen…gar nicht so einfach. Das war das erste Mal, dass ich so eine Tirade live miterleben musste. Ich bekomme viel Zweifel und Kritik an allen Verlautbarungen zur Corona-Pandemie und den Maßnahmen gegen sie mit. Auch in meinem Umfeld. Das finde ich auch völlig normal. Als kritische Menschen müssen wir genau hinschauen, uns austauschen, hinterfragen und widersprechen, wenn wir etwas für falsch erachten. Als Anarchist*innen sowieso. Ein Dilemma für mich ist zur Zeit, dass ich viele staatliche Maßnahmen für richtig halte. Wie kann ich das als Anarchist mit meiner staatsfeindlichen Haltung vereinbaren? Ist es – weil ich gegen Staaten und Regierungen bin – richtig, automatisch gegen alle Entscheidungen der Regierung zu sein? Sozusagen aus Trotz? Weil der Staat der Staat ist, ich ihn für eine falsche Schlange halte, muss ich auch alles, was von ihm kommt, für falsch halten? Mit Abstand betrachtet, ja. Im Detail, nein. Ich befürworte einige der Maßnahmen und Regeln nicht, weil sie vom Staat kommen, sonndern weil ich sie nach meinem bisherigen Wissensstand für zielführend und richtig halte. Im Detail sind das:

– Keine Großveranstaltungen: Wo viele Menschen eng zusammenkommen, kommt es logischerweise zu vielen Berührungen und Austausch von Tröpchen. In unserer Nachbarregion Elsass gab es im Februar eine evangelikale Massenveranstaltung, an der etwa 1000 Gläubische aus Frankreich und Schland teilnahmen. Diese Veranstaltung war eine der Hauptvirenschleudern am Anfang der Pandemie und war dafür verantwortlich, dass sich der Virus auch hier in der Ortenau schnell und unbemerkt verbreiten konnte.
– Sicherheitsabstand von 1,5 – 2 m: der Virus wird durch Tröpcheninfektion übertragen. Diese Tröpchen werden beim Sprechen, Nießen und Husten ausgestoßen und können ein Stück weit „fliegen“. Wir minimieren durch den Abstand, das Risiko andere anzustecken oder selbst angesteckt zu werden.
– Hust- und Nießetikette: Wenn wir in die Ellenbeuge nießen und husten, verteilen wir unsere evtl. mit dem Virus kontanimierten Tröpchen weniger.
Mund-Nasen-Schutz: Er minimiert die Anzahl die ausgestoßenen Tröpchen, da viele am Gewebe/Vliess haften bleiben. Wir schützen somit die Menschen in unserer Nähe. Tragen andere einen Mund-Nasen-Schutz schützen diese mich. Tragen viele oder alle einen, sind alle geschützt. Natürlich nicht 100%ig. Wir minimieren das Ansteckungsrisiko.

Das ist sowieso ein wichtiger Punkt in meinen Augen: Viele fallen in so ein merkwürdiges Schwarz-Weiß-Denken zurück und weisen die oben genannten Maßnahmen mit dem Spruch zurück, dass ja immer ein Restrisiko bleibe und sie irgendwo gehört hätten, dass jemensch trotz Mundschutz andere infiziert hätte o.ä. Klar, gibt es diese Fälle. Eben weil keine dieser Maßnahmen 100%ig schützt (was ja auch nie jemensch behauptet hat). Aber sie minimieren das Risiko und tragen somit dazu bei, dass sich der Virus langsamer verbreitet und die Krankenhäuser alle angemessen versorgen können.
Bisher ist Schland eher wenig von der Pandemie betroffen und die Zahlen sind lange nicht so hoch, wie zuerst angenommen. Hier kommt wohl das Präventionsparadox zur Geltung: Es wurden frühzeitig Vorsorgemaßnahmen ergriffen. Durch diese wurde wahrscheinlich das Schlimmste vorerst verhindert. Wir können aber nicht wirklich wissen, ob es diese Maßnahmen waren, die zu den aktuellen zahlen geführt haben. Viele sagen nun:“Ha, siehst du, ist ja alles halb so schlimm! Sind gar nicht so viele gestorben, wie vorhergesagt wurde! Hab ich’s doch gewusst, dass die ganzen Maßnahmen nichts bringen! Und wir lassen uns alles verbieten!“
Jetzt finden auch noch in ganz Schland Demos gegen die Corona-Maßnahmen statt. Eine irre Melange aus Nazis, Verschwörungsideolog*innen, Esoteriker*innen, Wutbürger*innen, Geschäftsleuten und linksalternativ angehauchte Menschen treffen sich zu Kundgebungen, auf denen die beknacktesten Wahnideen zum Besten gegeben und für wahr befunden werden (ich werde diese jetzt nicht im Einzelnen beschreiben: Suchmaschinen sind deine Freund*innen). Diese Mischung von Menschen erinnert mich frappierend an die Montagswahnmachen im Zuge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. Diese sind ja dann im Sand verlaufen. Das Gleiche wird wohl jetzt auch passieren. Trotzdem ist mir nicht wohl dabei, wenn ich das Ganze aus der Ferne betrachte. Es zeigt halt auch, wie viele Menschen anfällig für irrationale, vereinfachende Erklärungsmuster und menschenfeindliche Weltbilder sind. Wo sind diese Menschen, wenn es wirklich um wichtige Dinge geht? Sie wedeln mit dem Grundgesetz in der Hand herum aber die Würde des Menschen ist nur ihre eigene. Weder die Würde von Geflüchteten noch die der kommenden Generationen sind ihre Sache. Polizeigesetze, die unsere Freiheit wirklich noch mehr beschneiden scheren sie nicht. Überwachung analog und digital ist ihnen scheißegal, solange sie sich in ihrer Blase frei fühlen können. Diese Menschen sind egoistische Heuchler*innen, die den braunen Rattenfänger*innen willig folgen (oder zumindest ohne Scheu mit ihnen auf der gleichen Demo latschen) und sich dabei rebellisch vorkommen, weil sie sich gegen eine herbeifantasierte Diktatur wenden.

Ja, die Pandemie ist scheiße, nervt und die Gegenmaßnahmen schränken unser alltägliches Leben ein. Aber was ist denn die Alternative? So zu tun, als ob es sie gar nicht gäbe? Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über Bord werfen und den Tod von vielen Menschen in Kauf nehmen, damit wir wieder Party machen und willenlos shoppen können? Alle Bestrebungen aller linken und anarchistischen Bewegungen haben eine grundlegende moralische Motivation: Es soll allen Menschen auf der Welt gut gehen und niemensch soll an den Verhältnissen leiden. Leid zu minimieren sollte auch jetzt unsere Motivation sein. Es leiden und sterben echte Menschen. Und wir alle können es verhindern, indem wir uns zurücknehmen. Und „zurücknehmen“ heißt nicht, gar nichts zu tun, sondern es anders und mit Bedacht zu tun.

Wenn ich in den nächsten Wochen auf einer Demo sein werde, dann auf einer gegen die verschwörungsverschwurbelten Schwachmat*innen.

Nazis auf’s Maul.

* Die Situation am Pfandautomaten hat sich wirklich ereignet und ich habe den Inhalt des Gespräches aus der Erinnerung wiedergegeben, sicher nicht wortwörtlich, aber inhaltlich so korrekt wie möglich.

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