Anarchistische Perspektiven auf die gesellschaftlichen Krisen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie
Die Welt steht zwischen Gesundheitskrise und Wirtschaftsstillstand in der seit 1918 heftigsten Pandemie. Regierungen verordnen Verhaltensweisen, leiten im Eiltempo ganze Bündel von Maßnahmen ein, erklären den Shutdown und schnüren Gesetzespakete zur Abfederung der ökonomischen Folgekosten der Krise. Seitdem es auch im deutschsprachigen Raum ernster wurde, wird die Krise auch dafür genutzt, den starken Staat zu demonstrieren und der Bevölkerung durch ein mediales Feuerwerk eine mächtige kollektive Erfahrung vorzusetzen.
Doch auch wenn wir alle sterblich sind, sitzen wir eben nicht alle im selben Boot. Die umfassenden Reaktionen auf die Bedrohung der Gesundheit eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung – wie etwa Kontaktsperren, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote – bringen an die Oberfläche, was sonst alltägliche Realität in der bestehenden Herrschaftsordnung von Staat, Kapitalismus, Patriarchat und Naturbeherrschung ist: Im Ernstfall des erklärten Ausnahmezustandes, der Stunde der Exekutive, können demokratische Rechte und Freiheiten mit einem Wimperschlag außer Kraft gesetzt werden – was ein Großteil der Bevölkerung hinnimmt oder sogar fordert. Das Gesundheitssystem wurde über Jahre durch den neoliberalen Ausverkauf öffentlicher Güter kaputtgespart, sowohl in der EU als auch in der BRD. Arbeitende im Gesundheitssektor werden nicht angemessen bezahlt und Sorgearbeit ist im Kapitalismus nur dann was wert, wenn sie zur Profitmaximierung beiträgt. Durch die Aufforderung und im Zweifelsfall repressive Durchsetzung der „sozialen Distanzierung“ kommen Obdachlose, prekär Beschäftigte, Selbstständige, Frauen* mit gewalttätigen Partnern, Gefangene, Geflüchtete in Lagern sowie Menschen mit sozialen und psychischen Problemen in enorme Schwierigkeiten.
Auch für emanzipatorische soziale Bewegungen und Anarchist*innen verändert die Krise die Handlungsbedingungen. Weil sich gewisse Grundrechtseinschränkungen und Überwachungstechnologien aus Sicht der Herrschaftsordnung als funktional erweisen, ist nicht davon auszugehen, dass sie ohne Druck vollständig zurückgenommen werden. Eine Online-Demo, der Austausch per Videokonferenz oder die Organisierung im Chat mögen zwar ganz nett sein, sind aber nicht dasselbe wie die direkte Begegnung der Beteiligten. Andererseits entstehen auch neue solidarische Strukturen und durch die Entschleunigung haben Menschen Zeit, sich mit Anderem zu beschäftigen (falls sie nicht allein auf Amazon und Netflix rumhängen oder Verschwörungstheorien in Social Media liken).
Für Anarchist*innen stellen sich in Zeiten des Ausnahmezustandes die grundlegenden Fragen, wie sie es im Zweifelsfall tatsächlich mit ihrer Gegner*innenschaft zum Staat halten und mit welchen gesamtgesellschaftlichen Strukturen sie selbst einer globalen Bedrohung wie der Corona-Pandemie begegnen würden.
In Bezug auf diese Krise sind die Texte, Diskussionen und Aktionsformen in anarchistischen Zusammenhängen sehr divers. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass wir es tatsächlich mit einer neuartigen Situation zu tun haben, auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Wir rufen dazu auf, Beiträge für eine Sonderausgabe der Gai Dao zu schreiben, um die verschiedenen Aspekte der aktuellen Krisensituation sowie die unterschiedlichen Sichtweisen darauf abzubilden und damit zur Analyse beizutragen.
Fragen, die wir unter anderem stellen wollen, sind:
– Wie sind die gegenwärtige Situation und die damit einhergehenden Entwicklungen zu analysieren?
– Welche Verschiebungen und neuen Konstellationen ergeben sich im Staat, dem Verhältnis von Bevölkerungsgruppen zum Staat, im globalen Kapitalismus?
– Welche Folgen haben die gesundheitliche Bedrohungslage und die in ihrem Rahmen verordneten Maßnahmen und Verhaltensweisen?
– Welche Rolle spielen technokratisches Regieren durch Expert*innen und technologische Instrumente wie bspw. das Tracking von Smartphones?
– Wer trägt langfristig die Folgen und Kosten der aktuellen Maßnahmen?
– Welche Bestrebungen zur Selbstorganisation gibt es, wie funktionieren sie und welche Potenziale liegen in ihnen?
– Welche Chancen sehen wir in der Erfahrung eines solidarischen Miteinanders gegen die Herrschaftsordnung?
– Wie können sich Anarchist*innen in Zeiten des Ausnahmezustandes organisieren, ermächtigen und Menschen erreichen?
– Welche persönlichen Gedanken und Empfindungen habt ihr im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und welche Erfahrungen macht ihr in dieser Zeit?
Bitte reicht eure Beiträge bis zum 20. Mai 2020 ein.
Wir wünschen uns Texte, die auf den Punkt kommen und trotzdem keine Halbseiter aber auch keine Bleiwüsten sind. Viel mehr als 12.000 Zeichen sollten es nicht sein.
Da wir diese Sonderausgabe nicht drucken lassen werden (sie wird nur online erscheinen), haben wir mehr Platz zur Verfügung. Dennoch werden wir eine Auswahl treffen.
Schickt eure Texte an redaktion-gaidao@riseup.net. Unseren (neuen!) öffentlichen Schlüssel und den Fingerprint findet ihr hier.
Mit solidarischen Grüßen, euer Gai-Dao-Kollektiv