von kleinen schweinereien und dem großen ganzen

ein beitrag zum text „Von „Tier-KZ’s“ und einer befreiten Gesellschaft“ der anarchistischen gruppe freiburg

[mein text ist als solidarischer diskussionsbeitrag und ergänzung zum text der agfr zu verstehen. ich gehe hier weniger auf die tierrechtlichen aspekte des themas ein, als vielmehr auf andere aussagen im text.]

im großen und ganzen stimme ich dem text „Von „Tier-KZ’s“ und einer befreiten Gesellschaft“ der ag freiburg zu. die aussage des textes, dass es falsch sei, den täglichen massenmord an nichtmensch­lichen tieren in der ganzen welt mit der in der menschheitsgeschichte einzigartigen unbegreiflich­keit der shoa gleichzusetzen, unterstütze ich voll und ganz.

aber der vergleich ist etwas anderes als die gleichsetzung. ich kann durchaus verstehen, wenn tier­schützer_innen und (seltener) tierrechtler_innen auf der suche nach erklärungen, bildern und einer zuordnung für die unglaublichen leiden der tiere in unserer gesellschaft die unglaublichen leiden der europäischen jüd_innen während des dritten reiches als orientierungspunkt heranziehen. daraus spricht für mich eher eine hilflosigkeit, als bewusster antisemitismus: wie sollen wir denn sonst auf die missstände aufmerksam machen? wie sollen wir die alltäglichen qualen und langsamen tode von abermillionen leidensfähiger tiere den menschen begreifbar machen? die benutzung von wörtern wie „tier-kz“ oder „hühner-kz“ spiegeln diese hilflosigkeit wider. richtig sind sie dennoch nicht. eine emanzipatorische tierrechtsbewegung muss ohne dem vergleich und erst recht ohne der gleichsetzung des leidens der tiere mit den greueln der shoa auskommen. was unsere gesellschaft den tieren antut ist in sich auf eine andere art und weise schlimm und braucht den vergleich mit dem massenmord an den jüd_innen nicht. ihre kritik muss eine herrschafts- und kapitalismuskritische sein.

widersprechen möchte ich der behauptung „Gerade in letzter Zeit stoßen wir häufiger auf Bezeich­nungen wie „Tier-KZ“ oder „Hühner-KZ“, vor allem im Zusammenhang mit einer (berechtigten) Kritik an Fastfood-Ketten oder Massentierhaltung.“. was heißt „in letzter zeit“? was heißt „häufig“? in meinem umfeld finden sich viele veganer_innen, vegetarier_innen und tierrechtler_innen. doch niemand (ich eingeschlossen) hat in den letzten jahren diese begriffe benutzt. spätestens mit der un­säglichen peta-kampagne „der holocaust auf ihrem teller“ aus dem jahre 2004 hatte sich das erle­digt. in der radikalen linken und der autonomen tierrechtsbewegung wurde hier viel aufgearbeitet und es wurde sich weiterentwickelt. dennoch finden sich im netz viele beispiele für die verwen­dung. aber: die beiträge sind durch die bank mehrere jahre alt und meist auf bürgerlichen seiten zu finden. der einzige „neuere beitrag“ ist vom 23.01.2010 vom arbeitskreis tierschutz, einer reformis­tischen und sehr bürgerlichen gruppe. insofern scheint mir die obige behauptung entweder aus der luft gegriffen oder fußt auf inner-freiburger, privaten begegnungen. falls nicht, bin ich für hinweise dankbar.

das zitat von moishe postone

„Die Ausrottung der Juden musste nicht nur total sein, sondern war sich selbst Zweck – Ausrottung um der Ausrottung willen -, ein Zweck, der absolute Priorität bean­spruchte.”

im text der agfr fasst den wahn und die sinnlosigkeit der industriellen massenvernichtung gut zusammen. selbst in ihrem von purem hass, tiefer irrationalität und wirklichem wahnsinn getrie­benen tun, richteten die nazis buchhalterische, ökonomische und rationale rahmenbedingungen ein. die vernichtung musste geplant, organisiert, verwaltet und dokumentiert werden. wie sonst sollten millionen menschen reibungslos ermordet werden? aber selbst aus der restlosen tilgung der millio­nen jüd_innen wurde noch profit gezogen. nicht alle wurden vergast. viele arbeiteten sich zu tode, frauen wurden in den kz’s zur prostitution gezwungen, kinder dienten als menschliche „versuchskaninchen“. ihr hab und gut wurde in den ökonomischen kreislauf des dritten reiches eingespeist, die kleidung, die schuhe, der schmuck, die haare und die goldzähne wurden weiterverwertet. alles wurde zur ware… wären die nazis auf die idee gekommen, hätten die krematorien strom erzeugt.

„Antisemitismus ist oft ein Element einer oberflächlichen, personalisierten Kapitalismus-kritik. Da­durch, dass die abstrakten und ungreifbaren Eigenschaften des Kapitalismus auf eine Personengrup­pe projiziert werden, wird ein Feindbild geschaffen. Dies schürt Hass und das Bedürfnis der Ver­nichtung des vermeintlichen „Feindes“, der für die negativen Verhältnisse verantwortlich gemacht wird.“

ich verstehe die kritik an einer personalisierten kapitalismuskritik nicht wirklich. dahinter scheint die angst zu stehen, dass sie einem antisemitismus tür und tor öffnet oder dass sie per se schon antisemitisch sei. einer personalisierten kapitalismuskritik wird der abstrakte kapitalismus ge­genübergestellt: schwarzweiß-denken blitzt hier auf. ich finde eine personalisierte kritik am kapi­talismus wichtig und nötig: wir müssen mit konkreten beispielen die zerstörerische wirkungsweise des kapitalismus aufzeigen, um ihn zu verstehen und um unsere kritik den menschen verständlich zu machen. im selben text schreibt die agfr ja selbst „…vor allem im Zusammenhang mit einer (berechtigten) Kritik an Fastfood-Ketten oder Massentierhaltung.“ (ich setze hier voraus, dass die kritik an fastfoodketten durch emanzipatorische tierrechtler_innen immer auch kapitalismuskritik beinhaltet.) wenn ich konkrete fastfoodketten kritisiere, personalisiere ich meine kapitalismuskritik, da ich z.b. speziell mcdonalds angreife. ich fände es äußerst zynisch, z.b. den (indigenen) menschen in kanada , deren land zerstört wird, weil dort teersandöl abgebaut wird, zu sagen: “die firma xy kann da nix für, daran ist der abstrakte kapitalismus schuld. nehmt es bitte hin, ihr könnt eh nix dran ändern.“ personalisierte kapitalismuskritik hindert mich jedoch nicht, den abstrakten (meint unanschaulich, ungegenständlich, unkonkret, unwirklich), ich bevorzuge „allumfassenden“, charakter des kapitalismus zu erkennen und mich als teil von ihm zu sehen, als rädchen im system. ich habe die wahl: ergebe ich mich dieser allumfassenden übermacht oder akzeptiere ich einen weiteren widerspruch in meinem leben und kämpfe dennoch?

die alleinige behauptung vom abstrakten kapitalismus, nimmt uns allen die verantwortung für unser alltägliches handeln ab: „die verhältnisse sind halt so…“. dass aber die verantwortung durch die ungleiche machtverteilung vom neuen chef von bp, bob dudley, der umwelt und den menschen gegenüber ungleich größer ist als z.b. meine, liegt auf der hand.

was meint die agfr mit den

„abstrakten und ungreifbaren Eigenschaften des Kapitalismus“?

warum sind die funktionsweisen und auswirkungen des kapitalismus ungreifbar? wir sehen sie doch überall um uns herum. wir können sie anfassen. es wurden tausende bücher dazu geschrieben, millionen diskussionen darüber geführt. akw’s strahlen munter vor sich hin, der klimawandel ist in vollem gange, 40 000 menschen verhungern jeden tag und milliarden tiere leiden ein kurzes leben lang, damit konzerne profit machen. alles sehr greif- und verstehbar finde ich.

und nur weil ich einen konzern oder eine person für missstände verantwortlich mache, will ich ihn oder sie nicht vernichten (den konzern will ich enteignen…). ich will, dass er oder sie im hier und jetzt die verantwortung für sein oder ihr handeln übernimmt und im zweifelsfall für die schäden aufkommt. und ich will dass er oder sie aus den fehlern lernt. konkret würde das z.b. den ausstieg der energiekonzerne aus der atomkraft bedeuten. allumfassend würde es, durch die erkenntnis, dass endloses wachstum in einem endlichen system unmöglich ist, das ende des kapitalismus bedeuten…

„Linksradikale, herrschaftskritische Politik muss diese Gesellschaft und alle mit ihr einhergehenden Herrschaftsmechanismen als Ganzes begreifen, kritisieren und letztendlich abschaffen. Anders wer­den wir eine befreite Gesellschaft nicht erreichen.“

„begreifen“ und „kritisieren“ sind erstmal sehr passive und intellektuelle vorgänge, die zuhauf (nicht immer erfolgreich) passieren. das „abschaffen“ ist das handeln, ist die revolution. hier hapert es noch im ganzen. das üben hierfür halte ich für immens wichtig und ist der link zwischen der theorie und der befreiten gesellschaft: es geschieht überall um uns herum in autonomen zentren, in politischen gruppen, auf demos, in tierrechtsgruppen, bei direkten aktionen, in kollektivbetrieben und anderen emanzipatorischen projekten. hier lernen wir die selbstverwaltung in einer von oben verwalteten gesellschaft. hier schaffen wir den kapitalismus im kleinen ab (ja, ich weiß, auch in der kts kostet ein bier geld…). hier probieren wir das richtige im falschen aus. wie stünden wir da, wenn plötzlich die revolution käme und wir gar nicht wüssten wie das alles geht…

um den großen saustall zu erkennen und verstehen, muss ich die vielen, kleinen schweinereien erkennen und verstehen.

um das große ganze zu erreichen, muss ich im kleinen üben. fehler gehören dazu und sollten uns weiter- nicht auseinanderbringen

für eine vegane gesellschaft.

für die anarchie.

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