feuerlöscher zu sprengsätzen?

von bombenden anarchist_innen, der wut und den leuten

luciano pitronello schuffeneger ist 22 jahre alt. er hat keine hände und ist blind.

am 1. juni 2011 versuchte der junge anarchist mit einem weiteren genossen scheinbar eine filiale der banco santander in santiago de chile mit einem selbstgebauten sprengsatz, bestehend aus einem mit schwarzpulver gefüllten feuerlöscher und einem zeitzünder, zu beschädigen oder zu zerstören. dabei scheint die bombe vor ihrer zeit explodiert zu sein und hat luciano beide hände so stark verletzt, dass sie später im krankenhaus amputiert wurden. außerdem verlor er sein augenlicht und erlitt starke verbrennungen.

in den letzten jahren nahm die zahl der sprengstoffanschläge in chile zu und viele werden auch von anarchist_innen verübt. eine aktionsform, die hier in deutschland und den meisten europäischen ländern nicht auf dem tagesplan steht.

ich sehe einmal vom tragischen verlauf der aktion in santiago ab und versuche die hintergründe zu verstehen und spinne mal ein bischen herum: ein 22 jähriger chilenischer anarchist will mit einem genossen zusammen eine bank zerstören. nicht überfallen und ausrauben, sondern zerstören. ich nehme einmal an, dass er das nicht vorhatte, weil die bank ihm keinen kredit für ein neues auto geben wollte, sondern, weil diese bank für ihn ein symbol für den herrschenden kapitalismus war. dieses symbol wollte er vernichten. ich glaube nicht, dass er so naiv war, anzunehmen, dass durch diese aktion der kapitalismus als ganzes vernichtet würde. es sollte eine symbolische, punktuelle aktion sein, die vielleicht auch die öffentlichkeit, die leute erreichen und zum nachdenken bringen sollte. der individuelle charakter der tat hatte sicher auch einen großen und verständlichen anteil: die tägliche, unterdrückte wut auf die zustände, die immer zu spürende ohnmacht im angesicht des staates und des kapitals und das bedürfnis, diesen druck mal ablassen zu können.

eine direkte aktion im namen des antikapitalismus, anarchismus und lucianos: banken sind räder im getriebe des kapitalismus und treiben ganz konkret menschen in den ruin und in den selbstmord, also weg damit.

ich kann diesen (von mir ihm untergeschobenen) gedanken nur zu gut nachvollziehen und weine keiner ausgeraubten, beschädigten und zerstörten bank auch nur eine träne nach. aber ich denke auch, dass wir dadurch der revolution und der anarchie kein stück näher kommen.

die explosion erfolgte um 2 h 25 morgens, früher als gedacht. die frage für mich ist, wann sie eigentlich erfolgen sollte. wenn wir luciano als lebensbejahenden, für positive veränderungen kämpfenden und die menschen liebenden anarchisten sehen, können wir annehmen, dass die bombe außerhalb der öffnungszeiten der bank hochgehen und somit keine menschen verletzen oder gar töten sollte (ein restrisiko bleibt auch hier: nachtschwärmer_innen auf dem heimweg, zeitungsausträger_innen oder der in der nähe gewesene taxifahrer) .

wenn wir luciano als irren nihilisten sehen wollen, dem alles egal ist und der anarchie mit chaos und zerstörung gleichsetzt, dann kann der zeitzünder auch auf während der geschäftszeit eingestellt gewesen sein.

ich stelle mir luciano lieber als den ersteren vor: er lebte und arbeitete in einem kollektiv, einem besetzten haus und zentrum mit anderen anarchist_innen zusammen und tat wahrscheinlich das, was viele anarch@s weltweit in ihrem alltag tun: politische veranstaltungen organisieren, auf demos gehen, flyer und zeitungen machen und verteilen, solikonzerte veranstalten, …

nun spinne ich mal weiter: wenn der zeitzünder richtig funktioniert hätte und die bombe, sagen wir mal um 4 h morgens hochgegangen wäre, dann wäre die bank (-fassade) beschädigt oder zerstört worden und es wäre vielleicht ein bekenner_innenschreiben dazu aufgetaucht, das die aktion in einen zusammenhang gestellt hätte.

viele antikapitalist_innen und anarchist_innen hätten diese aktion für gut befunden und als teil des legitimen kampfes gegen das kapital aufgefasst. ich auch.

nun ist die bombe leider in den händen lucianos explodiert und hat ihn schwer verletzt. so schwer, dass er ein leben lang auf die hilfe anderer menschen angewiesen sein wird. wie wird er damit umgehen? wird er seinen idealen treu bleiben oder ob dieses schweren einschnitts in sein leben von ihnen abschwören? wahrscheinlich wird er, falls er überlebt oder weiter leben will, die nächsten monate andere sorgen haben: operationen, reha-maßnahmen, gerichtsverhandlungen und vielleicht knast.

bei solch einer (nach plan verlaufenen) aktion stellt sich die frage, wie sie von den leuten aufgenommen wird. schadet sie der „sache“? können inhalte so transportiert werden? ist das überhaupt beabsichtigt? muss an die leute, die wir ja irgendwie erreichen wollen, gedacht werden? muss immer an die leute gedacht werden? fakt ist, dass keine aktionsform allen gerecht werden kann. es gibt an allen schwachpunkte und kritikwürdige seiten. wenn aber unschuldige menschen zu schaden kommen, ist der grundtenor der öffentlichen reaktionen und meinungen meist klar: die spinnen doch, die anarch@s/kommies/antikapitalist_innen/freiheitskämpfer_innen!

interessant ist ein kommentar unter dem artikel dazu auf auf indymedia linksunten als antwort auf den hinweis, dass bei einem bombenanschlag auch unschuldige menschen getroffen werden können.
er oder sie schreibt: „was ist deine botschaft? „unschuldige menschen“, diese moralische scheiss kannst du dir sonst wo hinstecken. lies ruhig weiter deine graswurzel: „desto mehr gewalt desto weniger revolte“ dass ich nicht lache!“
ein inhaltsleerer, sinnloser „halt-die-fresse“-kommentar. der begriff „unschuldige menschen“ wird als „moralischer scheiss“ abgetan und der oder die schreiber_in wird als graswurzel-leser_in bezeichnet, was wahrscheinlich als eine art beleidigung gemeint sein soll.
meine frage an den kommentierenden menschen wäre, wie er es fände, wenn seine lebenspartner_in oder sein kind oder sein vater oder sein bester freund einer dieser „unschuldigen menschen“ wäre, die bei einem anschlag draufgehen. wahrscheinlich wäre er so eiskalt und revolutionär, dass er schulterzuckend mit einem begriff antworten würde: „collateralschaden“.
natürlich gibt es aus einem antikapitalistischen blickwinkel keine „unschuldigen menschen“: wir alle sind teil der maschinerie und halten sie durch lohnarbeit und konsum aufrecht. aber daraus den umkehrschluss zu ziehen, dass darum ruhig alle drauf gehen können, ist so zeimlich das dämlichste, was ich seit langem im internet gelesen habe. und da findet sich ziemlich viel dämliches…
später führt er/sie das noch weiter aus und rechnet gegen die „collateralschäden“ von bombenanschlägen die unzähligen, täglichen toten im namen des kapitals auf. er/sie hat recht: es sterben jeden tag zehntausende von menschen. unschuldige. als opfer eines systems, das anders niemals funktionieren wird, ja anders niemals funktionieren kann. aber rechtfertigt das eine das andere? [die folgende kommentar-diskussion ist teilweise sehr lesenswert. technisch interessant ist der kommentar zur funktionsweise des sprengsatzes.]

luciano ist kein held, märtyrer oder anarchistischer kombatant.

luciano ist ein 22jähriger junger mann ohne hände und augenlicht. es ist ihm zu wünschen, dass seine freund_innen und genoss_innen, die teilweise schon aus mauricio morales einen märtyrer gemacht haben, zu ihm halten und ihn nicht alleine lassen. dann zeigt sich, ob solidarität funktioniert: wer kümmert sich um ihn? ein blinder mensch ohne hände ist zu großen teilen ein „pflegefall“. es wird ganz konkret um hilfe beim an- und auskleiden, essen, trinken, bei der körperpflege, bildung und mobilität gehen.

-englischer text auf viva la anarquia
-kommentar einer chilenischen anarchistin unter dem indymedia deutschland-artikel dazu
-für des spanischen mächtige

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