Über Aufstandsfantasien, Militanzromantik, Autoritätshörigkeit und die ganz normale Solidarität unter Menschen
Die Corona-Pandemie hat uns erwischt und zwar volle Breitseite. Die rasend schnelle globale Ausbreitung des Virus Sars-CoV-2 und die durch ihn ausgelöste Lungenerkrankung Covid-19 hat alle überrascht. Zwar gab es Planspiele und theoretische Szenarien über ähnliche fiktive Viren, doch die Realität ist halt doch anders. Sie ist real. Sie hält uns einen Spiegel vor’s Gesicht, der uns zeigt, was wir alles verbockt haben. In diesem Punkt sind sich die Pandemie und die Klimakatastrophe ähnlich: Sie legen offen, was in der globalisierten Welt und ihrem Wirtschaftssystem schief läuft.
Wir sehen nun in Echtzeit in so ziemlich allen betroffenen Ländern, dass privatisierte oder kaputtgesparte Gesundheitssysteme Ausnahmesituationen nicht gewachsen sind und versagen. In Deutschland sieht es noch nicht ganz so schlimm aus. Das kann sich aber in den nächsten Wochen und Monaten drastisch ändern. Wir sehen, wie in einer hypermobilen, kapitalistischen Welt ein neuer Virus innerhalb weniger Wochen rasend schnell alle Länder und Kontinente erreicht und sich aufgrund seiner hohen Ansteckungsrate und langen Inkubationszeit der Großteil aller Menschen anstecken wird. Wir sehen, dass zerstörte Ökosysteme für die Menschheit auch in diesem Fall richtig scheiße sind.
Die Situation ist so haarig, dass Politiker*innen aller Parteien sich darin überbieten, welche Grundrechte als nächstes ausgesetzt werden sollen, um die Ausbreitungsgeschwindigkeit zu verlangsamen und so die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten. Viele tun das, weil sie es angesichts der Pandemie für geboten halten. Andere tun das sicher auch deswegen, weil sie die Gelegenheit beim Schopf packen und endlich mal so richtig durchgreifen wollen. Und die übergroße Mehrheit der Menschen scheint mitzuziehen: Es ist eine Ausnahmesituation. Ist das die Sehnsucht nach dem „starken Mann“ oder Ausdruck der oft beschworenen mündigen Bürger*innen, die die Notwendigkeit von Einschränkungen einsehen, weil sie uns allen zu Gute kommen? Wahrscheinlich beides. Betretungsverbote, Ausgangssperren, Auswertung unserer Bewegungsdaten, Schließung der Grenzen. All das nehmen wir gerade hin. Ich nehme es hin, weil ich mich eher ohnmächtig fühle und nicht sehe, dass die linke und anarchistische Bewegung etwas dagegensetzen könnte. Das können wir schon in „normalen“ Zeiten nicht wirklich. Aber was können wir tun? Und was tun wir?
Linke und anarchistische Texte zum Thema Corona sind in den letzten Wochen zuhauf geschrieben worden. Und viele davon finde ich grauenhaft, naiv und wichtigtuerisch (Viele andere finde ich aber richtig gut. Den hier auch.). Da wird von Aufständen fantasiert, zu Plünderungen aufgerufen und militante Aktionen gefordert. In einem teilweise verklärenden Stil und mit viel Poesie. Helfen tut uns das nicht. Ich bin mal gespannt darauf, ob es wirklich zu nennenswerten Aktionen kommen wird oder ob das wieder nur wildeste Militanzromantik ist, die um sich selber kreist und schon lange vergessen hat, warum wir das ganze eigentlich tun, was wir tun. Corona-Partys auf linksradikal?
Bisher sehe ich, dass die meisten Menschen eher besonnen und solidarisch mit der Situation umgehen. Klar kaufen viele Menschen viel zu viel Kram ein, aber das kann viele Gründe haben, z.B. Gemeinschaftseinkauf für die Nachbar*innen oder sie wollen oder können gerade nicht vor die Haustür gehen und kaufen deshalb viel auf’s Mal. Und es kann auch einfach Angst und Panik sein. Es gibt schon viele Initiativen, um alleinstehenden oder erkrankten Menschen zu helfen, sowohl von Behörden, Organisationen als auch von ganz normalen Menschen. Bei uns hier im Dorf besorgen z.B. die Pfadfinder*innen Einkäufe für Betroffene. Überall wird dazu aufgerufen, solidarisch zu sein und sich um die Nachbarschaft zu kümmern und ein Auge auf andere zu haben. Und es gibt sie auch von explizit linken und anarchistischen Organisationen und Gruppen. Das sind für mich sinnvolle und wirklich gebrauchte Ansätze. Sie helfen echten Menschen in echt und haben ganz nebenbei noch den Effekt, dass wir aus unseren linken Wohlfühlblasen rauskommen und in Kontakt zu den Menschen treten, die wir immer erreichen wollen (naja, davon sind einige vielleicht schon abgekommen, ich nicht…). Wenn wir die viel zitierte Solidarität jetzt leben und unsere Grundsätze umsetzen, erreichen wir viel mehr, als wenn wir Bullen angreifen und Supermärkte plündern. Unsere Kräfte sind echt gering und ich finde, wir sollten sie in diesen Zeiten für gegenseitige Hilfe nutzen und nicht für Aktionen, die schon in ruhigen Zeiten meistens nach hinten losgehen. Wie das wohl jetzt bei den Leuten ankommt, wenn ein Anarcho-Mob einen Aldi plündert und vollgepackt mit Klopapier und Dosenbier in der Nacht verschwindet? Und wie es wohl bei den Leuten ankommt, wenn das autonome, soziale, linke, anarchistische Zentrum sich in die Nachbarschaft einbringt und der Oma von nebenan den Einkauf erledigt, mit dem chronisch erkrankten Frührentner zur Ärztin geht, die Malocherin zu Arbeitsrecht berät?
Nur weil der Staat und seine Institutionen social distancing fordern und verordnen, muss es in dieser Situation nicht falsch sein. Ich kann aus eigener Einsicht, als rationaler Mensch selbst entscheiden, dass es z.Z. für alle besser ist, wenn wir Abstand halten. Wie schreibt die Allianz der Gruppen aus der „ersten Reihe“ aus Chile?
Weil wir die Fahne der Verteidigung der Menschen vor uns her tragen und uns der Grausamkeit des Coronavirus bewusst sind, rufen wir dazu auf, dass wir aufeinander aufpassen und Sorge für uns selbst und füreinander tragen. Wir wollen die Ausbreitung des COVID19 weder vorantreiben noch fördern, deswegen werden wir uns als Allianz der vielen Gruppen aus der „ersten Reihe“ von den Straßen zurückziehen, zumindest für diese Woche. Leider ist es im Moment von größter Bedeutung, Massenveranstaltungen zu vermeiden.
Wir müssen gesund bleiben, um weiter zu kämpfen!
Wir haben alle ältere Familienmitglieder und Kinder und sollten überdies nicht vergessen, dass diese sowie Menschen mit chronischen Erkrankungen zur Risikogruppe gehören. Stellt euch vor, wir treffen auf der Straße auf eine/n Überträger/in des Virus und sind dann verantwortlich für die Ansteckung unserer Lieben, wenn wir nach Hause kommen!
Das trifft den Nagel auf den Kopf. Wir alle finden die Situation zum Kotzen und viele sehen zum Glück doch die Notwendigkeit, sich von anderen, auch geliebten Menschen fern zu halten. Doch wie lange halten wir das durch? Ab wann macht es keinen Sinn mehr?
Es kommt eine Zeit nach Corona. Jetzt haben wir die Muse, zu lernen: Zu lernen, wie es dazu kommen konnte. Was sind die Ursachen für eine solche Pandemie? Warum sind unsere Gesundheitssysteme damit überfordert? Warum fließt auch jetzt in großem Stil das Geld fast nur von unten nach oben? Wie lange nehmen wir Ausgangssperren hin? Und wie wehren wir uns dann gegen sie und andere eventuell kommende Einschränkungen, die drohen, sich zu verstetigen?
Und wir müssen nicht alleine lernen. Es gibt im Zeitalter des Internets viele Werkzeuge, die es uns dennoch erlauben, miteinander zu diskutieren, gemeinsam zu erforschen, was falsch läuft und was wir besser machen müssen. Nutzt die Zeit, nutzt die Möglichkeiten.
Corona überdeckt zur Zeit alles. Wir sollten nicht vergessen, dass andere Probleme weiterhin akut sind: Die Klimakatastrophe, die verkackte AfD und ihre verkackten Schwesterparteien in anderen Ländern, Überwachung, verschärfte Polizeigesetze, Flucht (Geflüchtete sind jetzt besonders schlimm dran.), Festung Europa, Abschiebungen, Knast, Tierausbeutung und vieles mehr. Und irgendwie hängt das alles – auch Corona – zusammen, verwoben in einem Netz aus Herrschaft, Staat und Kapitalismus. Das könnten jetzt viele Menschen lernen.
Bleibt gesund.
Seid solidarisch.
[aus der häuslichen Isolation, nigra]