So lange ich denken kann, höre, sehe und lese ich Nachrichten über den Konflikt in Israel und Palästina. Begriffe wie Sechs-Tage-Krieg, IDF, Intifada, PLO und Namen wie Meir, Arafat, Rabin, Camp David sind mir geläufig. Immer wieder habe ich als Anarchist versucht, den Konflikt zu verstehen, mir eine Haltung anzueignen, die Bestand hat. Es gelingt mir nicht und inzwischen denke ich, dass es das auch nicht muss. Aber das denke ich zu vielen Konflikten und Kriegen in der Welt, die einfach nicht enden.
Die Situation vor Ort ist aus verschiedenen Gründen festgefahren und verworren. Schon allein die regionalen historischen Gegebenheiten würden ausreichen, den Konflikt am Laufen zu halten. Es gibt weltweit viele Beispiele, bei denen es ähnlich läuft. Hinzu kommt der europäische und natürlich deutsche Antisemitismus der letzten Jahrhunderte, die überall stattgefundenen Pogrome und die Shoa, die versuchte Vernichtung allen jüdischen Lebens, bei der über sechs Millionen Jüdinnen:Juden in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet wurden. Der europäische Antisemitismus und die nationalsozialistische „Endlösung“ sind untrennbar mit dem Konflikt verwoben.
Es gib hunderte von Büchern zum Thema und einige habe ich gelesen. Ich habe unzählige Diskussionen dazu verfolgt und geführt. Ich habe das Aufkommen und Verschwinden der antideutschen Bewegung beobachtet. Ich habe dann jahrelang vom Konflikt nichts wissen wollen, auch weil es so viel anderes hier zu tun gibt: Die Klimakatastrophe bekämpfen, die AfD in ihre Schranken verweisen, Schwurbler*innen entgegentreten, sich für Geflüchtete und die Bewegungsfreiheit aller einsetzen, für die Tierbefreiung eintreten und den Anarchismus voranbringen.
Am 7. Oktober 2023 haben Terror-Kommandos der islamistischen Hamas aus dem Gazastreifen Israel überfallen, über 1400 Menschen ermordet, viele verletzt und hunderte entführt. Sie gingen dabei äußerst brutal und menschenverachtend vor. Gleichzeitig wurden massive Raketenangriffe auf Israel gestartet. Es gibt unzählige schreckliche Videoaufnahmen, Berichte und Augenzeug*innenberichte, die das belegen und ich sehe keinen Grund, diese zu bezweifeln. Wer bisher noch nicht verstanden hat, was die Artikel 7 und 22 der Hamas-Charta bedeuten, konnte es am siebten Oktober endlich begreifen: Die faschistische Hamas meint es ernst mit der Auslöschung jüdischen Lebens. Sie bringt Menschen um, weil sie Jüdinnen:Juden sind. Sie ist keine antikoloniale Befreiungsbewegung. Sie steht nicht auf der Seite der Unterdrückten. Sie ist eine religiös-fundamentalistische Terror-Gruppe.
Als Reaktion auf den Hamas-Terrorismus startete der israelische Staat eine bis dahin unvorstellbare Bombardierung des Gazastreifens. Die Kollateralschäden, also getötete und verletzte Zivilist*innen und zerstörte Infrastruktur, sind enorm. Das lässt sich in einem der am dichtesten besiedelten Gegenden der Welt gar nicht verhindern, auch wenn die IDF im Vorfeld immerhin Warnungen ausspricht. Die Kritik am Vorgehen der IDF ist in der ganzen Welt groß und ich teile sie. Natürlich erfüllen die Bombardements ihren Zweck: Sie vernichten Hamas-Infrastruktur. Aber sie töten und verletzen auch unschuldige Menschen. Sie bringen die bisher sowieso schon schlechte Versorgung der Menschen in Gaza zum Erliegen. Die Reaktion der IDF sieht auch wie Rache aus: Wieder einmal entstehen Bilder, die der Hamas und anderen Antisemit*innen in die Karten spielen. Der Kampf von David gegen Goliath. Steine gegen Maschinengewehre. Unterdrückte gegen Unterdrücker*innen. Die israelische Armee ist eine der mächtigsten und modernsten der Welt. Die Hamas wirkt dagegen wie eine stümperhaft ausgerüstete Hobby-Armee. Dazu die Behauptung von der Befreiungsbewegung gerührt und fertig ist der Freiheitskampf-Eintopf. Nur mal so als Idee: Was würde geschehen, wenn Israel nicht zurückschlagen würde? Wenn es stattdessen mit den fortschrittlichen Kräften in Gaza zusammenarbeiten würde? Schließlich sind nicht alle Menschen in Gaza Hamas-Terrorist*innen. In den letzten Monaten und Jahren gab es dort wiederholt Demonstrationen gegen die Hamas. Der Teufelskreis aus Gewalt, Terror und Krieg muss durchbrochen werden. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber ich glaube nicht, dass die fanatische Hamas dazu fähig ist.
Ich denke, dass die Menschen in Palästina ohne die Hamas besser dran wären: Eine Gruppe, die den Islamismus und die Vernichtung Israels als Doktrin hat, kann und will nicht zum Frieden in der Region beitragen. Nehmen wir einmal an, dass die Hamas ihre Ziele erreicht: Israel ist vernichtet, alle Juden:Jüdinnen wurden ermordet oder vertrieben und die Hamas ist nun an der Regierung in Groß-Palästina. Was für ein Staat würde das sein? Schaut euch ihre Geschichte an, lest ihre Gründungscharta. Es würde eine islamistische Diktatur sein, in der Frauen und queere Menschen keine Rechte hätten und jede Freiheitsbestrebung im Keim erstickt würde.
Ich hatte 2011 große Hoffnung in das Manifest der Jugend von Gaza gesetzt: Endlich mal Menschen in Gaza, die sich öffentlich gegen die Hamas positionieren und benennen und zeigen, dass auch diese sie nur unterdrückt. Leider gab es in Gaza nie eine Revolution gegen die Hamas. Widerspruch gibt es hingegen immer wieder.
Ich konnte Linke nie verstehen, die die Hamas abfeierten. Die Hamas steht gegen alles, was Linken normalerweise wichtig ist. Sie steht für alles, was Linke ablehnen. Und nur weil der Konflikt im Kontext Israel und Palästina angesiedelt ist, werfen viele Linke ihre Ideale und Ansprüche über Bord. Das hat einen ekligen Beigeschmack. Warum fällt es vielen so schwer zu sagen: „Ich stehe an der Seite der Menschen in Gaza, aber die antisemitische Hamas unterstütze ich nicht, weil sie eine faschistisch-islamistische Terror-Organisation ist.“ Ich kann mich mit den Menschen in Gaza solidarisieren und trotzdem die Hamas ablehnen und das Existenzrecht Israels anerkennen. Und als emanzipatorische*r Linke*r oder als Anarchist*in muss ich das auch.
Ich wünsche mir, dass die Menschen in Gaza endlich einsehen, dass sich die Hamas einen Scheißdreck um ihre Belange schert. Und immer mehr scheinen das auch zu tun. Die Hamas ist nur eine weitere von vielen Akteur*innen, die um die Macht ringen, die herrschen und unterdrücken wollen und dabei auch über palästinensische Leichenberge geht. Freiheit für Palästina (was das auch immer sein soll) wird es nur ohne die Hamas geben.
Noch ein Wort zu Israel: Israel ist ein Staat. Und ich als Anarchist halte den Staat für den falschen Weg, Gesellschaft zu organisieren. Aber Israel ist kein Staat wie jeder andere, da er Zuflucht für alle Juden:Jüdinnen der Welt ist, die seit Jahrhunderten unter Antisemitismus, Verfolgung und Pogromen leiden und die Shoa überlebt haben. Dass die Gründungsgeschichte Israels keine schöne ist, ist mir bewusst (Aber welche Gründung egal welchen Staates ist schon schön?). Die innenpolitische Situation in Israel ist keine gute: Eine rechtsextreme Regierung unter dem unsäglichen Benjamin Netanjahu, autoritäre Bestrebungen, die unabhängige Justiz zu übernehmen, jüdisch-fundamentalistische Gruppierungen und die ständig intensivierte Siedlungspolitik machen das Ganze nicht einfacher. Und dennoch halte ich es für falsch, gerade dem Staat Israel in einer Welt aus Staaten das Existenzrecht abzusprechen. Auch das hätte einen ekligen Beigeschmack. Ich fange lieber hier bei mir zu Hause an und fordere die Auflösung des Staates Deutschland.
Es ist kompliziert… Ist es das? Ja. Immer noch.
In diesem Sinne, als erster Schritt: Free Palestine…from Hamas!