saint-imier im august 2012

weit über 3000 anarchist_innen aus der ganzen welt und jeden alters trafen sich vom 08. bis zum 12. august 2012 in der schweizerischen kleinstadt saint-imier und loteten ihre möglichkeiten und grenzen aus.

 

 

damals
vor genau 140 jahren, 1872, gründeten die anarchistischen und antiautoritären (ex-) mitglieder der internationalen die antiautoritäre internationale arbeiter_innenassoziation in saint-imier im schweizer jura.

 

 

 

 

das treffen
das diesjährige jubiläum nahm das organisationskommitee als anlass die weltweite anarchistische bewegung erneut nach saint-imier einzuladen. und sie kam: menschen aus den meisten (allen?) europäischen ländern, aus südafrika, mittel- und südamerika, weißrussland, kanada, den usa, kamerun, japan, etc. nahmen an dem fünftägigen treffen teil. mai dian aus china konnte die einladung nicht wahrnehmen, da ihm die chinesischen behörden die ausreise verweigerten.

es kamen so viele menschen, dass der vorgesehene zeltplatz auf dem mont soleil zwei mal erweitert werden musste und nahezu jedes zimmer in der 4700 einwohner_innen zählenden kleinstadt vermietet war. wildes campen wurde geduldet und viele menschen übernachteten in ihren bussen.

die volxküchen le sabot, kokerellen, die maulwürfe und ein fahrender brotbäcker sorgten drei mal am tag gemeinsam mit vielen freiwilligen für veganes und biologischen essen und heiße und kalte getränke. auch für menschen mit lebensmittelallergien war gesorgt: sie konnten sich und ihre allergie in eine liste eintragen und wurden extra bekocht. hinter dem espace noir gab es einen crêpestand und einen fleischgrill. an verschiedenen theken wurde bier, wein und anderes ausgeschenkt.

das inhaltliche programm war so vielseitig, dass es ob der unzähligen themen schwer fiel, sich zu entscheiden. die veranstaltungsräume waren über die ganze stadt verteilt, aber leicht zu fuß in wenigen minuten zu erreichen. immer wieder sprengten die teilnehmer_innenzahlen die räume.

im grande salle de spectacle in der stadthalle war eine simultanübersetzung in oft vier verschiedenen sprachen eingerichtet, die mittels funk auf kopfhörer übertragen wurde. ansonsten wurde die übersetzung den anfordernissen entsprechend von den anwesenden selbst geregelt.

in zwei verschiedenen kinos liefen an allen fünf tagen unzählige filme der verschiedensten genres.

ein wichtiger ort des austauschs und sich treffens war die gut besuchte büchermesse in der eishalle. verlage, gruppen, föderationen, netzwerke, gewerkschaften und vertriebe aus frankreich, spanien, schottland, deutschland, italien, der schweiz und andern (?) ländern boten tonnenweise bücher, broschüren, flyer, filme, plakate, aufkleber, buttons und andere mehr oder weniger sinnvolle gimmicks an.

und damit eltern all das wahrnehmen konnten, gab es eine mehrsprachige kinderbetreuung.

zusätzlich zum im voraus feststehenden programm organisierten sich viele veranstaltungen und workshops autonom oder spontan. so fanden auch themen wie tierrechte, kreative antirepression, regionale vernetzung und vieles mehr ihren platz und ihre interessenten.

wandzeitungen informierten über neue themen, aktionen, ärgernisse, ortswechsel, mitfahrgelegenheiten und riefen zum hierbleiben auf.

einen sehr großen und wichtigen raum nahm das informelle austauschen, treffen und kennenlernen ein. überall und jederzeit wurde diskutiert, gestritten, gelacht, geplant und sich vernetzt.

an der abschlussveranstaltung im grande salle de spectacle am sonntag nachmittag nahmen mehrere hundert menschen teil. hier wurden mehrere, auch kritische, texte von verschiedenen gruppen, netzwerken und föderationen verlesen. im anschluss gaben viele menschen ihre einschätzungen und kritiken des treffens über das saalmikrofon weiter.

die angestrebte gemeinsame abschlusserklärung blieb aus verschiedenen gründen aus.

die einwohner_innen saint-imiers waren freundlich, oft auch hilfsbereit und konnten dank des treffens eine steigerung des umsatzes verzeichnen, was den bürgermeister dazu veranlasste, uns für das nächste jahr wieder einzuladen (was mich eher davon abhalten würde…). bemerkungen, wie die eines sohnes zu seinem vater im supermarkt, der von krustigen punx verstopft war, „die sollten sich zuallererst mal waschen.“, waren eher selten. für den sonntag abend war ein gemeinsames festessen mit den einwohner_innen geplant (weiß da jemand mehr?).

die gemeinde saint-imier ist sich ihrer anarchistischen geschichte durchaus bewusst, was sicherlich auch an der unermüdlichen arbeit des selbstverwalteten kollektivs espace noir liegt. so finden sich in der stadt an mindestens drei orten öffentliche, von der gemeinde eingerichtete hinweise in form von schildern und einer kleinen litfasssäule, die bezug nehmen auf die anarchistischen uhrmacher_innen, den espace noir und das hotel central, wo sich vor 140 jahren die antiautoritäre iaa gründete.

solidarische kritik am organisationskommitee und den kritiker_innen des treffens
wer schon einmal in die vorbereitung eines so großen treffens eingebunden war, weiß wie viel arbeit das bedeutet: pressearbeit, veranstaltungsorte organisieren, referent_innen einladen, sich mit den behörden herumschlagen, anwohner_innen für sich gewinnen, geld auftreiben, infomaterial erstellen, herstellen lassen und vertreiben, eine website erstellen und pflegen, emailaccounts verwalten, ständige plena, sich die bullen vom hals halten, verschiedenste materialien wie zelte, übersetzungstechnik, stühle, tische, beamer, computer, kabel aller längen und größen ohne ende beschaffen und vieles mehr. wer dann auch noch nebenher eine lohnarbeit im genick und andere z.b. familiäre verpflichtungen hat, hat plötzlich zwei fulltimejobs. genau das haben die wenigen menschen des kommitees (meiner information nach waren das ca. 20 leute) über viele monate geleistet. und weil es menschen sind, haben sie dinge übersehen, schlichtweg vergessen oder sogar in ihrer überforderung ignoriert. sie haben deutlich im vorfeld und während des treffens um unterstützung gebeten.

mich hat die einforderung von perfektion von einigen harschen kritiker_innen geärgert. sie hatte oft den beigeschmack von konsumismus und erweckte bei mir den verdacht, dass diese kritiker_innen vergessen hatten, dass wir ja auf einem anarchistischen treffen waren: wenn mir etwas nicht passt, dann suche ich mir genoss_innen und wir packen das problem selber an (was ja auch in saint-imier überall passierte, weshalb ich die kritik noch viel weniger verstand.). immer wieder wurden die mangelhaften übersetzungskünste der freiwilligen simultanübersetzer_innen (sie gaben ihr bestes: vielen dank für die manchmal lustigen oder haarsträubenden übersetzungen.) oder die völlig fehlende übersetzung in einigen veranstaltungen (wem, außer den anwesenden, will mensch das zur last legen?) angeprangert. es wurde sich an der nicht überall vorhandenen barrierefreiheit gestoßen (eine große einschränkung für die betroffenen. wie hätten wir das solidarisch und praktisch lösen können?) . der im vorfeld nicht eingeplante safer space verärgerte viele genoss_innen (sie organisierten ihn hochmotiviert selbst). das verkaufen von fleisch erzürnte viele veganer_innen und tierrechtler_innen (sie umzingelten und löschten den grill.). die nicht ausreichende anzahl von räumlichkeiten nervte (wir wichen unter freien himmel aus.) . die festpreispolitik der abendveranstaltungen und des zeltplatzes kotzte an (ein photovoltaiksoundsystem legte für alle und draußen auf und jemand handelte einen autonomen zeltplatz aus.).

drogenkonsum, zu viele mitteleuropäische weiße männer, ein um sich prügelnder partner, in einen permakulturgarten einer anwohnerin kackende camper_innen, auf dem boden liegende kippen, t-shirtverkauf, kein alkohol bei migros, zu viel alkohol überall, nervende fotograf_innen, szeneheld_innen, zu wenig presseaufmerksamkeit, projektwerkstatt saasen, lächerliche schwarzrote nostalgiehüte aus spanien, inhaltlich zu oberflächliche veranstaltungen, zu wenig diskussion, zu wenig streit, zu viel streit, ein cremefraichetriefender gewerkschaftler, israelfans, palästinafans, hundehalter_innen, hunde, zugeparkte straßen, graffitis, zu wenige frauen, überlastetes w-lan, zu viel gelaber, zu wenig aktion, kein klopapier, chaostage 2012 in karlsruhe, … da war für jede_n was dabei.

ein optimistisches fazit
das organisationskommitee und wir alle gaben unser bestes, was oft nicht genug oder mangelhaft war. wir kamen für fünf tage aus allen teilen der welt zusammen und einige haben gelernt, dass auch anarchist_innen, nur weil sie für eine herrschaftsfreie welt kämpfen, dennoch geprägt von kapitalismus, sexismus, rassismus und all den anderen widrigkeiten unserer unperfekten und ungerechten welt sind.

wir haben die besten absichten, viele gute ideen und sind auf einem harten aber auch schönen weg. uns vereint das wissen, dass der mensch ein soziales wesen ist, das solidarisch und liebevoll mit sich und anderen umgehen kann und dass wir weder eine regierung, eine polizei, eine kirche noch den alles zerstörenden kapitalismus brauchen. uns trennt viel weniger als wir denken.

und das tolle ist, dass wir aus unseren fehlern lernen können. wir alle nehmen viele neue erfahrungen mit nach hause. unsere gehirne werden noch tage und wochen nach saint-imier rattern, verarbeiten und auswerten (so ist auch dieser text nur ein kleiner, voreiliger auschnitt aus diesen fünf tagen.). menschen, die noch nie etwas vom konzept des safer space gehört haben, werden dieses zu hause vorstellen. in permakulturen scheißende anarchist_innen lesen etwas über nachhaltige selbstversorgung und entdecken die gemeinsamkeiten zum anarchismus. anarchistische männer reflektieren ihren vorhandenen sexismus. anarchafeminist_innen vernetzen sich weltweit und treffen sich in zwei jahren unter sich. das organisationskommitee des nächsten treffens vertraut in uns alle, lernt von den voküs und erhebt keine festpreise. wir alle tragen das nächste treffen besser mit und es wird eine unglaublich gute übersetzung geben, alle räume richten wir barrierefrei ein und das fleisch auf dem grill wird aus seitan sein. insurrektionalist_innen, plattformist_innen und andere strömungen unserer bewegung fallen sich um die hälse (ohne sie zu würgen) und jagen die regierungen zum teufel.

danke, dass wir alle da waren.

viva la anarquia.

[fotos durch anklicken vergrößern. mehr findet ihr in der indymedialinksuntenversion des artikels.]

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